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Kirche: Toter 15-Jähriger vor Heiligsprechung: So wird der „Influencer Gottes“ verehrt

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Toter 15-Jähriger vor Heiligsprechung: So wird der „Influencer Gottes“ verehrt

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    In einer feierlichen Zeremonie in Assisi wurde Carlo Acutis vor vier Jahren seliggesprochen.
    In einer feierlichen Zeremonie in Assisi wurde Carlo Acutis vor vier Jahren seliggesprochen. Foto: Massimiliano Migliorato, Catholic Press Photo/picture alliance, dpa

    Sein Konterfei lächelt einen schon aus dem Schaufenster der „Mojano Shopping Gallery“ an, einem Souvenirladen in Assisi. Früher kamen die Menschen vor allem wegen des Heiligen Franziskus in die kleine Stadt im italienischen Umbrien. Jetzt haben sie ein neues Idol: Carlo Acutis. Bald wird auch er heilig sein, Santo Carlo. Ein Heiliger des 21. Jahrhunderts, faszinierend, abgöttisch geliebt und – man muss das wohl so sagen – vermutlich gerade eine überaus nützliche Figur für die katholische Kirche. Die steckt in Europa in einer tiefen Krise und verliert zunehmend den Kontakt selbst zu den eigenen Mitgliedern.

    Neben T-Shirts des AC Mailand, Juventus Turin und Harry-Potter-Hemden ist da also dieser Jugendliche. Irgendwie sehr normal und nett sieht er auf all den Bildchen und Täfelchen aus. Er trägt Turnschuhe, Polo-Hemd, den Rucksack hat er geschultert. Normalität ist hier offensichtlich auch Programm.

    Drei Rolltreppen weiter oben steht man vor der Basilika Santa Maria Maggiore, dem Ort, an dem die katholische Kirche eigentlich die Entkleidung des Heiligen Franz von Assisi feiert. Ein paar Grüppchen warten vor der Kirche, geführt von Mönchen oder Nonnen. Franziskus musste sich im Jahr 1207 auf dem Domplatz gegen die Anschuldigung verteidigen, das väterliche Vermögen für Almosen und den Aufbau der Kirche San Damiano abgezweigt zu haben. Der Vater hatte ihn verklagt. Franziskus zog seine Kleider auf dem Domplatz aus und schlüpfte, sozusagen, in die göttliche Haut: „Vater, der du bist im Himmel“, soll er gesagt und dem irdischen Leben und seinen familiären Banden entsagt haben.

    „Die Eucharistie ist die Autobahn in den Himmel“, sagte Carlo Acutis

    Für Carlo Acutis ist fast kein besserer Platz vorstellbar. Ihm ging es ganz ähnlich wie Franziskus einst, allerdings ohne, dass er seine Eltern vor den Kopf gestoßen hätte. „Wer sich in die Sonne setzt, wird braun. Aber wer sich dem eucharistischen Jesus hingibt, wird heilig“, lautet einer seiner berühmt gewordenen Sätze. Am opulenten Grabmal im Inneren der Kirche, rechtes Seitenschiff, ist folgender Acutis-Satz zu lesen: „Die Eucharistie ist die Autobahn in den Himmel.“ Griffiger kann man es als katholischer Jünger im 21. Jahrhundert nicht sagen. Um Carlo Acutis ist unter anderem wegen solcher Sätze ein kaum zu glaubender Hype entstanden. Und die Kirche weiß ihn in Szene zu setzen.

    Im Juli etwa tourte ein Stückchen von Acutis‘ Herz als Reliquie durch Deutschland. Stationen waren die Großstädte Köln, Hamburg, Berlin, München – und das Kloster Weltenburg an der Donau in Niederbayern. Mehr als 300 Menschen nahmen dort an einer Prozession mit Bischof Rudolf Voderholzer zur Abteikirche teil. Zudem ging es in die Niederlande und nach Belgien. „Einen solchen Tourneebetrieb kennt man nicht einmal aus dem Hochmittelalter“, spottete die Berliner tageszeitung.

    Doch: Allerorts kamen auch viele katholische Jugendliche, beeindruckt von dieser Ausnahmefigur und ihrem als Reliquie ausgestellten Organ, einem fingergroßen Stück des Herzens, wie es auf Domradio.de beschrieben wurde: eingefasst in einer Art Monstranz, etwa 30 Zentimeter hoch, „golden, schnörkelig verziert, mit einem kleinen Foto des 2006 verstorbenen Teenagers und jetzt Fast-Heiligen“. Für viele andere hatte das etwas Makaberes. Für die katholische Kirche aber gibt es wenig Besseres als einen Jugendlichen, der die Bedeutung der Messe und ihres Höhepunkts, Kommunion und Wandlung der Hostie, hervorhebt.

    Acutis, der von Papst Franziskus in absehbarer Zeit – der Termin wurde noch nicht bekannt gegeben – heiliggesprochen werden soll und der erste Heilige der Millennial-Generation sein wird, hatte ein Faible für sogenannte Hostienwunder. Für Nicht-Katholiken sind diese eine rätselhafte Kategorie mystischer Halluzinationen um eine Oblate, für Gläubige allerdings Phänomene der Offenbarung Jesu. Folgt man den Pfeilen in Santa Maria Maggiore in Assisi, kommt man jedenfalls rasch an seinem Sarkophag im rechten Seitenschiff zu stehen. „Carlo Acutis 1991-2006“ lautet die Inschrift. Der zukünftige Heilige starb erst vor 18 Jahren.

    In Assisi wird deutlich: In dem Glassarkophag liegt ein katholischer Popstar

    Der Sarkophag hat ein langes Sichtfenster. Der Körper eines Jungen liegt darin, einbalsamiert. Gläubige sowie Neugierige stellen sich an. „No photo!“, befiehlt ein Schild. Eine Frau geht langsam in Richtung Grabmal, küsst die eigene Hand und presst sie danach auf das Glas, an die Stelle, an der der Kopf des Jungen seine vorerst letzte Ruhestätte gefunden hat. Eine Gruppe Jugendlicher wartet, es ist ein Kommen und Gehen. Manche der Jugendlichen bekreuzigen sich vor dem Körper, andere bleiben stehen und untersuchen den Leib mit fast chirurgischen Blicken.

    Es ist offensichtlich: Hier liegt jemand, der das Zeug zum katholischen Popstar hat, ja, der bereits einer ist. Der Tote trägt blaue Nike-Turnschuhe an den Füßen, Jeans, eine North-Sail-Jacke mit drei Streifen an den Ärmeln. Im Grunde fehlen bloß Tattoos. Hände und Gesicht sehen aus wie aus Wachs, Härchen ragen aus der Haut. Gleichwohl wird beteuert, es handele sich tatsächlich um den 2019 exhumierten, rekonstruierten und einbalsamierten Körper von Carlo Acutis. Er liegt hier wie ein Christus der Moderne, ein Heiliger in Sneakers.

    Manche sind bei seinem Anblick tief ergriffen. Eine Besucherin in Sandalen kniet nieder, hält inne. Gegenüber des Grabmals sitzen in diesem Moment acht Personen auf einer Bank. Innig betet ein Mann mit dem Rosenkranz in der Hand. Auch der tote Acutis hat so einen Rosenkranz um die Hände gewickelt. Die Frau in Sandalen küsst jetzt das Glas. Nach ihr kommt einer dieser Neugierigen: Er schiebt sich die Sonnenbrille nach oben, rümpft die Nase und begutachtet, wie es scheint, jede Pore des Körpers vor sich. Als labe er sich daran. Ein katholisches Gruselkabinett?

    Acutis soll mindestens zwei Wunder bewirkt haben

    Links hängt eine Öllampe von der Decke. „Nicht ich, sondern Gott“, ist darauf zu lesen. Rechts kann man Gebete auf Zettel schreiben, in einen Kasten einwerfen und hoffen. Schließlich hat Acutis der katholischen Kirche zufolge mindestens zwei Wunder bewirkt, notwendig geworden erst für seine Seligsprechung im Jahr 2020 in Assisi, später für die bevorstehende Heiligsprechung. Das erste Wunder soll einem Jungen in Brasilien geschehen sein, der 2011 vollständig von seiner Erkrankung an der Bauchspeicheldrüse genesen sein soll. Nachdem er eine Acutis-Reliquie berührt hatte.

    Im vergangenen Mai veröffentlichte der Vatikan das Dekret, das das zweite Wunder bestätigte und die Heiligsprechung möglich machte. Am 1. Juli beschlossen diese der Papst und Kardinäle offiziell während eines sogenannten Konsistoriums im Apostolischen Palast. Das zweite Wunder: Eine 21-Jährige hatte sich bei einem Fahrradunfall vor zwei Jahren schwere Kopfverletzungen zugezogen. Ihre Mutter betete hier am Grab des seligen Carlo in Assisi, bat um Heilung und wurde erhört. Ein medizinisches Gremium des Vatikan fand zumindest keine wissenschaftliche Erklärung für die Genesung der jungen Frau. Ein Wunder, wirklich? Fakt ist: Der Weg für die Kanonisierung war damit frei. Auch dieser Weg gleicht einer Schnellstraße, einer Autobahn.

    1991 wird Carlo Acutis in London geboren. Sein Vater ist Andrea Acutis, Sohn des berühmten Turiner Geschäftsmanns Carlo Acutis. Der Säugling wird nach seinem Großvater, dem Chef des milliardenschweren Versicherungskonzerns Vittoria benannt, der noch heute in Familienhand ist. Wer will, kann bösartig eine dunkle Allianz zwischen Mailänder Hochfinanz und Klerus unterstellen. War nicht der dubiose und vom Papst wegen fraglicher Geschäftspraktiken geschasste Kardinal Angelo Becciu Chef der Kongregation für die Heiligsprechungen, als der Fall Acutis akut wurde? Wie auch immer. Carlo sagt sich nicht von der reichen Familie los wie sein Vorbild, der Heilige Franziskus. Und Mutter Antonia beginnt früh, an seiner Legende mitzustricken: Schon als Dreijähriger habe Carlo stets in die Kirche gehen und etwa der Madonna Blumen bringen wollen. Die Familie lebt inzwischen in Mailand. Als frühreifer Katholik bekommt das Kind im Alter von sechs Jahren die Erstkommunion. Acutis hilft, wo er kann, engagiert sich für Bedürftige, Obdachlose, ist in der Hausaufgabenbetreuung aktiv, spielt Saxofon und Fußball – wenn auch nicht besonders gut.

    Normalität und Heiligkeit. Was gibt es Besseres, um suchende jugendliche Seelen für den Glauben einzunehmen? Carlos Mutter sagt: „Jeder ist unterschiedslos zur Heiligkeit berufen. Mein Sohn hätte es sehr geschätzt, dass jeder seinen eigenen Weg zu Gott findet. Jetzt erkennt ihn die Kirche als Vorbild für alle an, das man leicht nachahmen kann.“

    Sie nennen den Jugendlichen „Cyber-Apostel“

    Noch einmal zurück in die Vergangenheit: Carlo Acutis‘ großer Trumpf ist seine technische Begeisterung. Früh beginnt er mit dem Programmieren auf seinem PC, spielt Computerspiele, erstellt Webseiten. Sogar Online-Ausstellungen ruft er ins Leben, zu „eucharistischen Wundern“, „Madonnen-Erscheinungen“, „Engeln und Dämonen“ sowie zum Thema „Hölle, Fegefeuer, Paradies“. Es wird diese Verbindung zwischen Glaube und Technologie sein, die ihn im 21. Jahrhundert für die Kirche derart bedeutsam werden lässt. Als „Computer-Genie“ bezeichnete ihn die Zeitung Corriere della Sera. Andere nennen ihn „Cyber-Apostel“ oder „Influencer Gottes“. Vielleicht wird er bald Patron des Internets, Schutzheiliger von Instagram und Co. Die Spindoktoren im Vatikan denken längst in diese Richtung.

    Algorithmen und Hostien, Jesus und Webseiten. Natürlich streamt eine in Santa Maria Maggiore installierte Kamera das Grabmal 24 Stunden am Tag. Für alle die, die ihn brauchen, aber nicht nach Assisi kommen können. Seine Eucharistie-Ausstellung machte tausendfach die Runde, vor allem in den USA. Familie und der engere Freundeskreis sollen Hunderte E-Mails und Briefe am Tag bekommen.

    Und das Herzstückchen ist nicht die einzige Carlo-Acutis-Reliquie. Auf Malta wird eine Locke verehrt, ebenso in einer Kirche bei Neapel. In Rom, in der Kirche Sant‘Angela Merici im Norden der Stadt, beten sie ein Stück des Betts an, auf dem der Junge starb, eine Ecke seines Leintuchs sowie ein Stückchen Pullover. Die Reliquien sind in Plexiglas gefasst und auf diese Weise gut transportierbar. Häufig fragen andere römische Gemeinden an und erhalten sie ausgeliehen, erklärt Pfarrer Danilo Spagnoletti. „Seit der Seligsprechung gibt es großes Interesse“, sagt er. Die Zielgruppe seien Jugendliche, katholisch oder nicht. Die Welt mag digital sein, eine Reliquie – so überkommen es auch scheinen mag – stellt offenkundig nach wie vor eine direktere Verbindung, stellt Nähe her.

    Es ist Oktober 2006, als Acutis an einer plötzlichen Leukämie erkrankt und innerhalb einer Woche stirbt. Ein Drama. Er ist gerade einmal 15 Jahre alt. Zwei Monate vor seinem Tod, das erzählt seine Mutter Antonia, habe Carlo gesagt, er sei bereit zu sterben und wolle in Assisi begraben werden. Nur sechs Jahre danach setzt die Kirche den Prozess für seine Seligsprechung in Gang. 2019 wird sein Körper exhumiert, rekonstruiert und an seinen jetzigen Ort umgebettet. 2020 folgt die Selig-, bald die Heiligsprechung. Für Kirchenverhältnisse ist das alles wie eine Fahrt auf der Autobahn mit hoher Geschwindigkeit.

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    3 Kommentare
    Otto Albrecht

    "Erst kürzlich tourte ein Stück seines Herzens als Reliquie durch Deutschland." Wie eklig. Störung der Totenruhe. Wo bleibt der Staatsanwalt?

    Wolfgang Schwank

    Selbst im 21. Jahrhundert gibt es scheinbar noch Zeitmaschinen, die in archaische Zustände führen, bis ins dunkelste Mittelalter hinein.

    Susanne Metz

    Ich bin eine aktive und überzeugte Katholikin, aber dieser Kult befremdet mich sehr! Da komme ich nicht mit.

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