Francesco Zanardi spricht wie ein Wasserfall. Vielleicht muss das auch so sein, angesichts der Stille um ihn herum. In vielen Teilen der Welt bestimmt das Thema „sexueller Missbrauch durch den Klerus“ die Berichterstattung über die katholische Kirche. Nicht so in Italien. Wenn „Rete l’abuso“ nicht wäre, dann könnte man meinen, diese Verbrechen gäbe es nicht in Italien. „Netzwerk Missbrauch“, so nennt sich der von Zanardi vor rund zehn Jahren gegründete Verein mit Sitz in Savona, Ligurien. Es ist die einzige Organisation im Land, die die Opfer von Geistlichen vertritt.
„Es herrscht absolutes Schweigen bei diesem Thema in Italien“, sagt Zanardi, 51. Im Alter von elf Jahren wurde er erstmals von einem Priester vergewaltigt, insgesamt vier Jahre lang. Erst im Alter von 40 Jahren sei er sich seines Traumas bewusst geworden, erzählt Zanardi am Telefon. „Dann habe ich angefangen, mich um mich selbst zu kümmern und Gerechtigkeit zu suchen.“
Er zeigte seinen Täter an, der ihm in der katholischen Jugendgruppe des ligurischen Seebades Spotorno und auf Ausflügen ins Zeltlager Gewalt angetan hatte. Doch als Zanardi bei der Staatsanwaltschaft Anzeige erstattete, waren die Taten verjährt. „Da merkte ich, dass ich aktiv werden und mithelfen muss, dass solche Dinge nicht mehr passieren.“
Zanardi und sein Helferkreis haben die Fälle von 360 Geistlichen dokumentiert
Seit über zehn Jahren also gibt es Rete l’abuso nun bereits. Der Erfolg der Betroffenenorganisation ist bemerkenswert. Dennoch steht die Aufarbeitung in Italien nach wie vor ganz am Anfang.
Zanardi und sein Helferkreis haben bislang die Fälle von 360 Geistlichen dokumentiert, die in den vergangenen 15 Jahren wegen Missbrauchs verurteilt wurden oder gegen die ein Verfahren läuft. Auf der Internetseite der Organisation sind sie auf einer Italien-Karte verzeichnet, unter „unsichere Diözesen“. Rote Markierungen stehen für letztinstanzlich verurteilte Täter, gelbe für laufende oder versandete Verfahren. Schwarz sind Orte markiert, an denen Missbrauchstäter aus dem Ausland nach Italien versetzt wurden; blau markiert die 21 kirchlichen Therapie-Einrichtungen für Täter aus dem Klerus. Die Praxis der Versetzung von überführten Tätern und die Hoffnung, eine Therapie könne ihre pädophilen Neigungen beenden, prägen bis heute das Vorgehen der Kirche in Italien.
Die Frage, warum es keine Aufarbeitung gibt, beantwortet Zanardi mit dem Desinteresse der heimischen Presse. Hinzuzufügen ist unter anderem die Verstrickung von Kirche, Staat und Gesellschaft im tief katholisch geprägten Italien. Als mit Franziskus im Februar erstmals ein Papst zu Gast in einer italienischen TV-Talkshow war, erging sich der Moderator in Ehrerweisungen, stellte aber keine einzige Frage zum drängendsten aller kirchlichen Themen, dem Missbrauch. „Die großen italienischen Medien sind ein sicherer Ort für den Vatikan“, schrieb die New York Times.
Untersuchungsberichte hat noch keine italienische Diözese in Auftrag gegeben
Die Kirche genießt überdies bestimmte rechtliche Privilegien. So wurde in den Lateranverträgen, die das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in Italien regeln, vereinbart, dass die Staatsanwaltschaft die Diözesen über Ermittlungen gegen Priester in Kenntnis setzt. „Man muss also schon bei der Anzeige alle Beweise vorlegen“, sagt Zanardi, sonst werde vertuscht.
Untersuchungsberichte wie etwa zuletzt in Deutschland hat noch keine italienische Diözese in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse wären vermutlich dramatisch: Zanardi geht von bis zu einer Million Missbrauchsopfern seit 1950 aus. Diese Schätzung ergibt sich aus Vergleichen: In Frankreich wurden laut dem Bericht einer von der Kirche selbst beauftragten Kommission 330.000 minderjährige Betroffene gezählt, davon 216.000 Opfer von Priestern und 114.000 von Laien. Während es in Frankreich 21.000 Priester gibt, sind es in Italien mit rund 52.000 Geistlichen allerdings etwa zweieinhalb mal so viele.
Betroffener Zanardi fordert eine parlamentarische Untersuchungskommission
Untersuchungen zufolge sind um die vier Prozent aller Priester Missbrauchstäter. „Es spiegelt sich mit gewissen Bandbreiten weltweit wider, dass es in den letzten 80 Jahren gegen drei bis fünf Prozent der Diözesanpriester Anschuldigungen wegen Missbrauchs gibt“, sagt der in Regensburg geborene Jesuitenpater Hans Zollner, Leiter des Instituts für Anthropologie an der päpstlichen Gregoriana-Universität in Rom. Legt man die Zahlen aus Frankreich zugrunde und multipliziert sie mit dem Faktor 2,5, kommt man auf 825.000 Opfer. „Eine beunruhigende Zahl“, sagt Zanardi.
Er fordert die Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission, weil er sich von den Aktivitäten der italienischen Bischöfe wenig verspricht. Nicht einmal die Hälfte aller Diözesen verfügt über Anlaufstellen für Betroffene, die dem Klerus zudem verständlicherweise misstrauen.
Untersuchungsberichte wie in Deutschland, Frankreich oder den USA hat der Vorsitzende der italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Gualtiero Bassetti, ausgeschlossen. „Man erweist der verwundeten Gemeinschaft und der Kirche keinen guten Dienst, wenn man oberflächlich vorgeht und einfach nur mit Zahlen um sich wirft“, meinte er.