Ihre Sonnenbrille mit den runden Gläsern trägt sie nur noch selten, wenn sie jeden Morgen eiligen Schrittes das Gerichtsgebäude in Avignon betritt. Gisèle Pelicot verdeckt ihre Augen nicht mehr. „Die Schande muss die Seiten wechseln“, so sagte es einer ihrer Anwälte. Nicht sie hat sich zu schämen – sie als das Opfer, das jahrelang von ihrem Ehemann Dominique Pelicot, von dem sie inzwischen geschieden ist, medikamentös betäubt und im eigenen Schlafzimmer von Dutzenden Fremden vergewaltigt wurde. 51 Männer sind angeklagt in dem Prozess, den Medienvertreter aus der ganzen Welt und viele Menschen aus der Region vor Ort verfolgen.
Manche reihen sich ab frühmorgens in eine Schlange vor dem Gericht, um einen der 60 Plätze im Übertragungssaal zu ergattern. Überwiegend Frauen sind im Publikum. Von Journalisten befragt, sagen die meisten, sie kämen, um Gisèle Pelicot zu unterstützen.
Die zierliche 71-Jährige ist in Frankreich zu einer Ikone im Kampf gegen sexuelle Gewalt geworden. Erscheint sie am Gericht, brandet Applaus auf. Die Rentnerin nickt dann den klatschenden Menschen lächelnd zu, faltet die Hände zum Dank. Manche nähern sich ihr, um sie zu umarmen oder ihr einen Blumenstrauß in die Hand zu drücken. Am Mittwochmorgen sang ein feministischer Frauenchor vor dem Gericht das chilenische Lied „Canción sin miedo“, „Gesang ohne Angst“.
Im Prozess werden Videos der Vergewaltigungen gezeigt
Gegen den Willen der meisten Verteidiger hat sich Gisèle Pelicot mit ihrem Wunsch durchgesetzt, dass der Prozess öffentlich ist und Videos und Fotos von den Vergewaltigungen gezeigt werden. Vor jeder Projektion werden sensible Personen und Minderjährige dazu aufgefordert, den Saal zu verlassen. Die Aufnahmen sind laut ihren Anwälten unerlässlich, um jene Angeklagten zu widerlegen, die sich herauszureden versuchen. Und um zu zeigen, dass eine Vergewaltigung nicht unbedingt ein brutaler Überfall in einem dunklen Park sein muss, sondern auch eine minutiös vorbereitete und anschließend vertuschte Tat im privaten Umfeld des Opfers sein kann. Mindestens neun Jahre lud Dominique Pelicot über eine spezielle Internetseite regelmäßig Männer in das Haus im südfranzösischen Örtchen Mazan, wo er mit seiner Frau die Rente verbrachte. Dort vergingen sie sich gemeinsam an ihr. Die Taten filmte er. Der 71-Jährige hat ein umfassendes Geständnis abgelegt und lässt keine Gelegenheit aus, die anderen zu belasten. „Ich bin ein Vergewaltiger, wie alle hier in diesem Saal“, verkündete er.
Zwar gelten die Angeklagten als „Normalos“ jeden Alters und aus verschiedenen Altersschichten, viele haben einen geregelten Beruf und eine Familie. Doch etliche berichten von traumatischen Erfahrungen in ihrer Kindheit. Sie wurden geschlagen, missbraucht oder von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht. 35 der 51 Angeklagten weisen den Vorwurf der Vergewaltigung zurück. Sie bejahen die Frage, ob sie die Tatsachen anerkennen – es gibt ja die Videos. Aber es habe sich nicht um Absicht gehandelt, versichern viele. „Ich bin doch kein Vergewaltiger, der Vorwurf ist zu schwer für mich zu tragen“, sagte Husamettin D. „Ich habe Frauen immer respektiert“, so Jacques C. Einige rechtfertigen sich, sie hätten ja das Einverständnis des Ehemannes gehabt und sich keine weiteren Fragen gestellt. Sie glaubten, es handle sich um ein Sex-Spiel, Gisèle Pelicot werde gleich aufwachen – obwohl sie völlig leblos dalag oder laut schnarchte. Und fast alle sehen sich selbst als Opfer: Sie seien in die Falle eines Perversen gegangen, hätten nur nicht genug nachgedacht oder Angst vor Dominique Pelicot gehabt. „Er war ganz rot im Gesicht, ich hatte eine Riesenangst“, sagte Redouan E. „Ich wollte ihn nicht frustrieren, also spielte ich den guten Schüler.“
Viele Angeklagten entschuldigten sich
Viele der Angeklagten entschuldigten sich bei Gisèle Pelicot. Nicht immer konnten sie klar ausdrücken, wofür – lehnen sie doch den Vorwurf der Vergewaltigung ab. Manche ihrer Verteidiger gingen sie scharf an, wie der Anwalt Philippe Kaboré mit der Frage, ob sie nicht „ein wenig exhibitionistisch“ veranlagt sei. Das war einer der wenigen Momente, an denen die 71-jährige Zivilklägerin die Stimme erhob. Sie verstehe alle Vergewaltigungsopfer, die nicht Klage einreichen, sagte sie aufgebracht. „Seit ich diesen Gerichtssaal betreten habe, fühle ich mich erniedrigt.“
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