War, hatte, blieb: Alles Schöne, Wichtige, was über Jean-Luc Godard gerade jetzt gesagt oder geschrieben werden kann, funktioniert offenbar nur in der Vergangenheitsform. Die Gegenwart? Disparat, widersprüchlich, mitunter völlig hanebüchen. Wenn Bert Rebhandl in seiner 2020 erschienenen Biografie „Jean-Luc Godard. Der permanente Revolutionär“ behauptet, der Mann habe zeit seines Lebens nicht nur große Kunst und Philosophie, sondern „immer auch eine Gegenaufklärung“ betrieben, dann ist das eine sehr milde, höfliche Umschreibung für: Godard hat sehr oft sehr viel Blödsinn verzapft.
Jean-Luc Godard eckte an und erschien vielen als Antisemit
Normalerweise sollten Nachrufe anders beginnen, sich auf die Errungenschaften des Verstorbenen konzentrieren, ihn gebührend in positivem Licht strahlen lassen und die Missetaten tunlichst ausblenden. Doch Grabredner müssen auch bei der Wahrheit bleiben, nichts verklären. Jean-Luc Godard selbst hätte die üblichen Schemata der wohlmeinenden Verabschiedung rundum abgelehnt, diese pflichtschuldigen Lobhudeleien, die er stets als grundverlogen betrachtete. Wohlan: Der Regisseur war selbst ein notorischer Lügner, nicht nur ein Mythomane, sondern auch ein Kleptomane, der bei seinem ersten Job in einem Wasserwerk Schreibmaschinen klaute und Freunde aus der „Cahiers du cinéma“-Zeit in Paris bei Besuchen regelmäßig bestahl. Es war eine gewisse Leck-mich-Haltung gegenüber materiellen Werten, die anderen teuer waren. In seinem Film „Week End“ ließ er mehrere Autos zu Schrott fahren, dabei entstanden horrende Kosten.
Bis heute hält sich die Meinung, er sei ein Antisemit gewesen, weil er einmal gesagt hatte, die Palästinenser wären die Juden von heute. 1976 hatte er zudem in seinem Film „Hier und anderswo“ Golda Meir und Hitler nebeneinander geschnitten. Ganz zu schweigen von seinem unsäglichen Plädoyer für Sex zwischen Erwachsenen und Kindern, das er einem Protagonisten in „Nummer zwei“ (1975) in den Mund legte – damals eine intellektuelle, zeitgeistige Sottise.
Jean-Luc Godards "Außer Atem" war ein cineastischer Weckruf
Unberechenbar, bizarr, ein Leben mit der Provokation als Weggefährtin: So bleibt Godard in Erinnerung. Er war der Radikalste, Rabiateste unter den Paten der einstigen Nouvelle Vague, einer der wichtigsten und folgenreichsten künstlerischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Godard erzählte mit seinen Kontrahenten François Truffaut, Jacques Rivette und Claude Chabrol Kino-Geschichten über Liebe, Verrat, Sex, Geld, Rausch und Tod.
Als Prototyp der Gattung „Weckruf“ gilt sein Erstling „Außer Atem“ mit einem grandiosen Jean-Paul Belmondo und einer lasziv-naiven Jean Seberg, der ihn bei den Feuilletons in den Rang eines gottgleichen Genies aufsteigen ließ. Er schuf weitere große Momente der Kinohistorie, wie das Wettrennen durch den Louvre mit Anna Karina, Sami Frey und Claude Brasseur in „Die Außenseiterbande“ (1964) sowie das von Maruschka Detmers und Jacques Bonnaffé gespielte, unter einer Dusche zusammengezwungene Paar in „Vorname Carmen“ (1983). Jeder einzelne Godard-Film betrat aufregendes Neuland, ästhetisch, moralisch, politisch. „Die Geschichte der Nana S.“ illustriert das Schicksal einer Frau, die in die Prostitution rutscht, „Der kleine Soldat“ stand wegen seiner Kritik am Algerienkrieg in Frankreich auf dem Index, und in „Eine Frau ist eine Frau“ sucht sich eine Französin einen Leihvater für das Kind, das ihr Gatte nicht zeugen möchte. Brigitte Bardot, der teuerste Star, mit dem er je arbeitete, wird in „Die Verachtung“ (1963) bei einem Autounfall regelrecht zerschmettert.
Jean-Luc Godards Lebenswerk strotzt vor Widersprüchlichkeit
Jean-Luc Godard stand immer mit einem Bein außerhalb der Filmindustrie. Er drangsalierte seine Anhänger mit maoistischen Umsturz-Ideen, zog sich angesichts des Sieges der Dumpfbacken auf allen TV-Kanälen auf die Rolle des intellektuellen Bildersammlers zurück. Stets betonte er, dass Kino-Illusionen nicht zu trauen sei, unerbittlich forderte er, jedes Bild für etwas anderes zu nehmen, jede Szene als schon einmal gesetzt, jede Dialogzeile als Bonmot aus dem Fundus der toten Ahnen und Dämonen europäischer Kultur zu verstehen. Seine gebündelte Widersprüchlichkeit steht auch für die ganze Zerrissenheit der Kultur und der Gesellschaft im 20. Jahrhundert.
Geboren wurde er am 3. Dezember 1930 als Sohn französisch-schweizerischer Protestanten in Paris, sein Vaters Paul Godard war Augenarzt. Der mütterliche Zweig der Familie, die Monods, galt als eine der berühmtesten Familien Frankreichs, zu deren Mitgliedern ein Nobelpreisträger, Pastoren, Wissenschaftler, Politiker, Geldleute gehörten. Großvater Julien-Pierre Monod galt als Mäzen Paul Valérys, und 1926 traf sich der französische Poet mit seinem deutschen Dichterfreund Rilke in Anthy, dem Sommerschlösschen der Monods, das auch in Godards Film „Forever Mozart“ auftaucht. Die reichen Bildungsschätze, die Godard, je älter er wurde, umso dekorativer in seinen Filmen ausbreitete, hatte er also mit der Muttermilch aufgesogen.
Mit Jean-Luc Godard ist das alte Kino gestorben
Was wollte Godard tatsächlich? Aufrütteln? Möglicherweise. Seine letzten Werke klangen wie literarisch-politische Manifeste: „Film Socialisme“, „Adieu au langage“, „Le livre d’image“. Aber vielleicht war es nur ein großer Witz, meisterlich irrsinnig ein ganzes Leben lang inszeniert von einem, dessen Humor niemand je in seiner Komplexität verstehen konnte. Den Ehren-Oscar 2010 für sein Lebenswerk nahm er – natürlich – nicht persönlich entgegen, auch 2007 sagte er die Überreichung des Europäischen Filmpreises in Berlin kurzfristig ab und schickte stattdessen nur ein kitschiges Mörike-Gedicht. 2020 feuerte der Regisseur, schon gebrechlich wirkend, während eines Instagram-Interviews mal wieder eine steile These über geschichtliche Zusammenhänge auf die nichts ahnende Welt: Beim Irakkrieg 2003 sei es in Wahrheit darum gegangen, dass die Amerikaner den Ort erobern wollten, an dem die Menschheit das Schreiben gelernt habe. Aha ... Wie die meisten seiner über 100 Filme war auch dies unübersichtlich, zerfranst, wirr, schwer nachvollziehbar. Aber es fand Beachtung, wie alles aus seiner Richtung.
Jean-Luc Godard selbst nannte das, was er tat, nicht Filmen, sondern Produzieren. Eine eigene Realität erschaffen, die unzählige Menschen, Rockmusiker, Kunstschaffende, Denker und Cineasten vor und während der 68er-Ära nachhaltig beeinflusst hat. Am Dienstag ist er im Alter von 91 Jahren gestorben. Mit ihm ist auch das alte Kino, das die Welt verändern wollte, nun endgültig tot.