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Italien: Das Wunder von Neapel: Wie junge Menschen gegen die Mafia kämpfen

Auf der Piazza Sanità herrscht wieder Leben, und sauberer sind die Straßen auch.
Italien

Das Wunder von Neapel: Wie junge Menschen gegen die Mafia kämpfen

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    Manchmal führt der Weg ins Licht durch tiefe Finsternis. Ivan schaltet seine Taschenlampe an. Ihr Lichtkegel fällt auf den dunkelgelben Tuffstein. Die Konturen der Besucher zeichnen sich in der Dunkelheit der Katakomben ab. Sie stehen vor atemberaubenden frühchristlichen Fresken. Der Fremdenführer erklärt die Geschichte des heiligen Januarius aus Neapel, genannt San Gennaro. Alles ist eine Metapher hier im Untergrund Neapels, das Martyrium, der Glaube an das Unmögliche und die Auferstehung. 

    San Gennaro ist der wichtigste Heilige in der Stadt am Vesuv. Das in einer Ampulle aufbewahrte Blut des Märtyrers verflüssigt sich dreimal im Jahr, und wenn das nicht der Fall ist, rechnen die Neapolitaner mit kleinen oder großen Katastrophen. „Wir befinden uns hier im frühchristlichen Untergrund der Stadt“, sagt Ivan. Die San-Gennaro-Katakomben erstrecken sich auf 6000 Quadratmetern, sie sind die größten Süditaliens. Am Ende der eindrucksvollen Führung lässt Ivan dann die Wahl: Entweder man steigt die unzähligen Stufen wieder hinauf und tritt oben im Viertel Capodimonte ins Tageslicht zurück. Oder man wählt die Alternative, die Ivan vorschlägt: „Ich empfehle euch hier unten rauszugehen, dann führt der Weg zurück durch die Sanità.“

    2006 starben in Sanità etwa 300 Menschen durch den Krieg der Camorra

    Die Sanità ist ein berüchtigtes Stadtviertel Neapels, vor Jahren war es noch eine No-go-Zone. 2006 starben hier etwa 300 Menschen durch den Krieg, den verfeindete Camorra-Clans gegeneinander führten. An der Fassade der Kirche Santa Maria della Sanità, die so etwas wie das Zentrum des Viertels im Norden der Stadt ist, steht geschrieben: „Essere napoletano è meraviglioso“, Neapolitaner sein ist wunderbar.

    Das hätte vor einiger Zeit noch wie Hohn geklungen. An der Kirchenfassade neben der Schrift prangt auch das überdimensionale Foto von Genny Cesarano, der im September 2015 als 17-Jähriger im Kugelhagel der Mafiosi starb. Unschuldig, nur weil er sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielt. Das galt lange in gewisser Weise für alle, die an diesem gottvergessenen Flecken Italiens ihre Kindheit und Jugend verbrachten. Die Zukunftsaussichten in der Sanità, einem der größten Drogenumschlagplätze der Stadt, waren gleich null.

    Wer nicht Teil eines Clans war, suchte meist woanders sein Glück

    Arbeitslosigkeit und Kriminalität regierten hier. „Die Sanità ist wie ein Ghetto“, sagt Vincenzo Porzio, der hier im Viertel aufwuchs. Er gehörte zu einer Gruppe aus Jugendlichen, die sich vor etwa 20 Jahren in der Kirchengemeinde Santa Maria trafen und sich gemeinsam mit dem früheren Pfarrer Antonio Loffredo fragten, ob es eine Alternative geben könnte zur Emigration nach Norditalien oder ins Ausland. Denn wer in der Sanità nicht in die Clan-Familien verstrickt ist und von einer besseren Zukunft träumt, für den gab es bislang nur einen Weg: nichts wie weg.

    Don Loffredo organisierte Städtereisen per Bus mit den Jugendlichen, man besuchte Berlin oder München. Bei der Rückkehr nach Neapel dachten sich Vincenzo und seine Freunde dann: schöne Städte, aber hier bei uns gibt es auch tolle Kulturschätze. „Wir können da mithalten“, erzählt Porzio, heute 37 Jahre alt. Da gibt es das nahe gelegene Museo di Capodimonte mit Werken von Tizian, Botticelli und Brueghel; das berühmte Archäologische Nationalmuseum; die Adelspaläste; das pulsierende Straßenleben und der direkte Kontakt zwischen den Menschen; und schließlich die San-Gennaro-Katakomben. Die waren allerdings damals nicht zugänglich, sondern wurden als Mülldeponie missbraucht.

    Vincenzo Porzio wuchs im Viertel auf und gehörte zu einer Gruppe aus Jugendlichen, die sich fragte, ob es eine Alternative geben könnte zur Emigration nach Norditalien oder ins Ausland.
    Vincenzo Porzio wuchs im Viertel auf und gehörte zu einer Gruppe aus Jugendlichen, die sich fragte, ob es eine Alternative geben könnte zur Emigration nach Norditalien oder ins Ausland. Foto: Max Intrisano

    Die jungen Leute aus Neapel räumten den Müll weg

    Also machten sich die Jugendlichen daran, den Müll wegzuschleppen. „Wir fühlten uns wie Indiana Jones im Untergrund“, sagt Porzio. Er ist heute Sprecher der Kooperative La Paranza (Die Clique), die von acht Jugendlichen im Jahr 2006 mit dem Ziel gegründet wurde, sich selbst und dem Sanità-Viertel eine Zukunft zu geben. Die Jungen räumten den Müll, Spinnennetze und Geröll weg und brachten die ersten Interessierten per Führung in die Katakomben. 2008 gewann die

    Die Katakomben wurden zugänglich gemacht, am Eingang oben in Capodimonte betritt man zuerst einen vornehmen Vorraum mit Bar. 2006 wurden schon 6000 Besucher gezählt, inzwischen sind es 200.000 pro Jahr. „Die Katakomben sind eine der größten Attraktionen der Stadt“, behauptet Porzio, der hier oben sein Büro hat. Die Kooperative beschäftigt heute 44 Festangestellte, einer von ihnen ist der Fremdenführer Ivan. Es gibt inzwischen eine gute Perspektive im Sanità-Viertel.

    Das Viertel hat einen historischen Bezug zum Tod

    Am Ende der spektakulären Führung, die in der Basilica San Gennaro fuori le mura endet, lässt der Fremdenführer wie gesagt die Wahl. Wieder hochsteigen nach Capodimonte oder aus dem Kirchenportal hinaus, durch das ehemalige Pest-Krankenhaus San Gennaro ins tief gelegene Sanità-Viertel, das oben von Schnellstraßen umgeben jahrzehntelang Ghetto-Status hatte. 

    Das Viertel hat einen historischen Bezug zum Tod. Da sind die frühchristlichen Nekropolen, die Toten der Pest von 1656 wurden auf dem nahe gelegenen Fontanelle-Friedhof begraben. Überall im Viertel stehen kleine Altäre in Erinnerung an verstorbene Familienangehörige oder als dauerhafte Bittgesuche zum Allmächtigen. Auch die Gedenktafeln für die Camorra-Opfer stechen heraus. Und plötzlich steht man im Moloch.

    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender besuchten vor einigen Jahren eine Probe des Musik-Projekts Sanitansemble.
    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender besuchten vor einigen Jahren eine Probe des Musik-Projekts Sanitansemble. Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa

    Auf Tuffsteinplatten führt der Weg hinab. Wild parken Autos auf der Straße. Mofas rasen an den Besuchern vorbei, von denen sich manche skeptisch und verunsichert umsehen. Man muss sich an so ein Spektakel erst einmal gewöhnen. An der Piazzetta San Vincenzo steht ein Mann mit Baseball-Kappe und wartet offensichtlich auf Drogen-Kundschaft. Hinter ihm eine der dutzenden entweihten Kirchen Neapels, in der die Kooperative ein Theater-Projekt für Jugendliche gestartet hat. Es ist nicht das einzige Sozialprojekt, das hier in den vergangenen Jahren auflebte. Gegründet wurden: ein Jugendorchester, in dem rund 100 Kinder und Jugendliche spielen („Sanitansemble“), das Plattenlabel Apogeo Records, die Kinder- und Jugendbetreuung „Il grillo parlante“, die Boxwerkstatt „Casa dei cristallini“, in der Polizisten aus dem italienischen Olympiakader als Boxtrainer wirken. Langsam hat sich in diesem gottvergessenen Flecken ein neuer Kosmos entwickelt.

    In Sanità können die waghalsigsten Träume Wirklichkeit werden

    Auf der Via San Vincenzo balanciert ein improvisierter Kellner ein Tablett mit einem Cappuccino über das Kopfsteinpflaster, mit nur einer Hand am Steuer und ohne Helm. So etwas gibt es wohl nur in der Stadt am Vesuv. „In der Sanità bekommt man eine authentische Neapel-Erfahrung, auf Tuchfühlung mit den Menschen“, hatte Vincenzo Porzio noch vor dem Abstieg in die Katakomben prophezeit. 

    An der Trattoria „Frittatona“ vorbei, in der es saftige Parmigiana, Auberginenauflauf mit Mozzarella und frittierte Pizza gibt, trifft man unten an der Bar „Forza Napoli“ auf die Via Sanità, die Hauptschlagader dieses lebendigen Stadtviertels. Ein paar Touristen schlendern durch die belebte Straße. Das hätte es vor ein paar Jahren noch nicht gegeben. Hinter der hohen Brücke liegt linker Hand die Casa del Monacone, das erste, schon 2006 von der Kooperative in Betrieb genommene Bed and Breakfast, das es hier in der Gegend gab.

    Das Viertel hat sich vom Verbrechen erholt

    Die Unterbringung ist einfach, preiswert und gut besucht. Giuseppe und Marco empfangen hier die Gäste. Morgens sind zwei Touristen-Pärchen aus Norditalien beim Frühstücken, sie schlürfen Kaffee aus der Mokka-Kanne. Einige der Mitarbeiter kommen selbst aus schwierigen Verhältnissen. Marco etwa brach die Schule ab, weil seine Familie Geld benötigte. Er arbeitet, seit er 14 Jahre alt ist. „Am Anfang lief er davon, wenn man ihn ansprach, so schüchtern war er“, erzählt Vincenzo Porzio. Auch die Casa del Monacone ist ein erfolgreiches Sozialprojekt der Kooperative. „Man hielt uns für verrückt, als wir die Idee hatten, Touristen zum Schlafen in die Sanità zu bringen“, sagt Porzio. Die Visionäre der Kooperative „La Paranza“ sollten recht behalten.

    Die wundersame Verwandlung des Sanità-Viertels schreitet fort. Einige der begehrtesten Bars und Restaurants der Stadt befinden sich inzwischen hier. In der Via Arena della Sanità bei Hausnummer 29 verkauft der Konditor Ciro Poppella seine Köstlichkeiten. Seine mit Ricotta-Creme gefüllten „Schneebälle“, von denen er angeblich acht Millionen Exemplare produziert, werden in die ganze Welt exportiert. Bei Hausnummer 7 bietet Ciro Oliva original neapolitanische Pizza feil. Seine Pizzeria Concettina ai Tre Santi wird im Guide Michelin geführt, der über das Stadtviertel urteilt, es sei „uralt, lebendig, beliebt und oft verrückt“. Zwei der weißen Marmortische sind mit Touristen besetzt, die sich genüsslich saftige Pizzastücke in den Mund schieben. Manche Städte klagen über zu viel Tourismus. In der Sanità sind Gäste aus dem Ausland der Beweis, dass die waghalsigsten Träume Wirklichkeit werden können.

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