Von Westen führt die A10 in Richtung Genua. Rechts tut sich kurz das Thyrrenische Meer auf, ins Stadtzentrum sind es noch etwa 20 Minuten. Auf dem Schild steht "Genova San Giorgio", der Name der neuen Brücke, über die man, fast ohne es zu merken, gerade fährt. Bis vor fünf Jahren führte hier die Morandi-Brücke über das Polcevera-Tal. Am 14. August 2018 stürzte sie ein und riss 30 Autos und drei Lastwagen mit in die Tiefe, 43 Menschen kamen ums Leben.
Unter der San-Giorgio-Brücke, entworfen vom Genoveser Star-Architekten Renzo Piano und in nur zwei Jahren errichtet, wurden 43 Bäume als Mahnmal für die Opfer gepflanzt. An diesem Montag findet hier die Gedenkveranstaltung statt. Um 11.36 Uhr wird es eine Schweigeminute geben. Die Kirchenglocken Genuas sowie die Hupen der Schiffe im Hafen sollen ertönen.
"Fünf Jahre sind eine sehr lange Zeit, vor allem für eine Mutter, die ihr Kind alleine aufziehen muss." So schrieb Giovanna Donato in einem offenen Brief. Ihr Mann Andrea ist eines der Todesopfer des Brückeneinsturzes. "Die Erinnerung an jenen 14. August, Andreas ausgeschaltetes Telefon, die Gebete, der Anruf, die unterdrückten Tränen", schreibt Giovanna. "Immer noch gibt es keine Gerechtigkeit. Viele Regierungen haben gewechselt, viele Worte, viele Versprechen, aber niemand hat die Verantwortung für das Geschehene übernommen."
Am 11. September wird der Strafprozess gegen 59 Angeklagte fortgesetzt, er begann im Juli 2022. Manager, Fachleute und Beamte des Verkehrsministeriums müssen sich unter anderem wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung, schweren Verstößen gegen die Verkehrssicherheit, Falschaussage und Dokumentenfälschung verantworten. Als Hauptangeklagter gilt der frühere Vorstandsvorsitzende der Autobahn-Betreibergesellschaft "Autostrade per l'Italia" (ASPI), Giovanni Castellucci. Den Angeklagten wird vorgeworfen, die Instandhaltung der baufälligen Brücke vernachlässigt und vor allem auf Profite für die Aktionäre geachtet zu haben. Bei einem heftigen Gewitter am 14. August 2018 stürzte einer der drei Brücken-Pylone ein. Gutachtern zufolge waren die von Beton ummantelten Stahlseile gerostet. Schon kurz nach Fertigstellung der Morandi-Brücke 1967 waren erste Mängel bekannt geworden.
Die Verteidigung hat über 400 Zeugen beantragt. Gerechnet wird mit einem Urteil im kommenden Jahr. Bis es rechtskräftig ist, könnten zehn Jahre vergehen, fürchten die Hinterbliebenen. Hauptaktionär der ASPI war bis zum Einsturz die Familie Benetton. Im Zuge der Katastrophe entzog die damalige Links-Regierung der Familie die Lizenz, verstaatlichte das Unternehmen und entschädigte die Benetton-Holding mit 9,3 Milliarden Euro. "Autostrade per l'Italia" kaufte sich mit einer Strafzahlung von 30 Millionen Euro frei und kann strafrechtlich nicht mehr belangt werden.
Im Prozess wurden Details über jahrzehntelange Versäumnisse deutlich. Im Mai berichtete der frühere Benetton-Manager Gianni Mion von einer Besprechung 2010 zwischen Verantwortlichen von ASPI. Techniker hätten damals von einem "Konstruktionsfehler" der Morandi-Brücke berichtet. "Ich fragte, ob es eine externe Stelle gäbe, die die Stabilität der Brücke garantieren könne", erinnerte sich Mion. Riccardo Mollo, einer der Manager und heute unter den Angeklagten, habe geantwortet: "Das bescheinigen wir uns selbst." Mion sagte, er bedauere es, damals nicht die Sperrung der Brücke beantragt zu haben.
Für die Hinterbliebenen ist das kein Trost. "Wir sind entsetzt, müde und traurig", sagt Egle Possetti, Sprecherin der Hinterbliebenen-Initiative. Sie verlor beim Einsturz ihre Schwester, deren zwei Kinder und ihren Schwager. "Diese Tragödie war das Ergebnis von Gier und Inkompetenz. Von Gerechtigkeit sind wir immer noch weit entfernt."