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Islamistische Rebellen: Der Sturz von Baschar al-Assad löst neue Sorgen in Syrien aus

Islamistische Rebellen

Der Sturz von Baschar al-Assad löst neue Sorgen in Syrien aus

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    Menschen durchwühlen die Privatwohnung des gestürzten Präsidenten Baschar al-Assad in Damaskus auf der Suche nach Habseligkeiten.
    Menschen durchwühlen die Privatwohnung des gestürzten Präsidenten Baschar al-Assad in Damaskus auf der Suche nach Habseligkeiten. Foto: Hussein Malla, AP/dpa

    Am Sonntagmorgen ist er plötzlich verschwunden. Jahrzehntelang hat Baschar al-Assad, 59, von diesem Ort aus, dem mondänen Palast mit den Marmorböden und der schicken, gepflegten Parkanlage in der syrischen Hauptstadt Damaskus, seine Befehle für das Foltern und Morden von Regimegegnern erteilt. Hat mit seinem Schreckensregime eine beispiellose Flüchtlingswelle ausgelöst. Und jetzt stehen da, mitten im Palast, eben jene Regimegegner, bärtige Rebellen, die Selfies machen, als wäre das hier ein Tag der offenen Tür.

    Assad ist geflohen und ein Großteil des Landes binnen weniger Tage in die Hand von Aufständischen gefallen. Fast kampflos hat sich die Armee des bisherigen Machthabers zurückgezogen und der gefürchtete Geheimdienstapparat sich in Luft aufgelöst. Millionen Menschen feiern das Ende der Diktatur – ohne zu wissen, was sie nun erwartet. Die Wiedergeburt eines neuen Syrien? Oder der Sturz vom Regen in die Traufe?

    Syrien: Mohammed al-Dscholani gehörte einst der Terrorgruppe Al-Kaida an

    Einzelne Einheiten von Assads Militär haben noch versucht, sich gegen die Rebellen zu wehren. Es soll auch Schusswechsel in Damaskus gegeben haben. Doch eine organisierte Gegenoffensive kann man all das nicht nennen. Videos zeigen, wie Regierungssoldaten ihre Uniformen gegen zivile Kleider tauschen. Und wie ein Mann nun versucht, das neue Machtvakuum zu seinen Gunsten zu nutzen: Abu Mohammed al-Dschulani. „Nicht eine einzige Kugel“ dürfe ohne Erlaubnis abgefeuert werden, sagt er nach der Einnahme von Damaskus. Er verspricht den Syrern eine Regierung für alle Bewohner, auch für Christen, Kurden und andere Minderheiten. Wolle beweisen, dass seine Islamisten gut und gerecht regieren können. Will er das wirklich, und wenn ja: Wie soll das gehen, bei dieser Vorgeschichte und in dieser Konstellation?

    Da ist zum einen Dschulani selbst. Er ist der Anführer der verschiedenen Rebellengruppen, die an dem Aufstand beteiligt sind, und zugleich Chef der radikal-sunnitischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS), was so viel heißt wie „Organisation für die Befreiung (Groß-)Syriens“. Dschulani, heute 42 Jahre alt, wuchs in Damaskus auf, schloss sich als junger Mann 2003 dem Kampf gegen die US-Invasion im Irak an und stieg in der irakischen Al-Kaida-Organisation auf – einer Terror-Gruppierung also. Nach eigenen Angaben saß er im Irak einige Zeit in US-Militärgefängnissen. Mit seiner gewalttätigen Vergangenheit ist er im Reinen. „Wenn die Amerikaner nicht einmarschiert wären, hätte es auch keinen Widerstand gegeben“, sagte er vor knapp vier Jahren dem US-Sender PBS.

    Nach Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges 2011 kehrte Dschulani in sein Heimatland zurück und baute die Nusra-Front auf, die als syrische Al-Kaida-Gruppe gegen Assad und gemäßigte Oppositionsgruppen kämpfte. Dabei wurde er von Abubakr al-Bagdadi unterstützt, dem späteren Anführer des Islamischen Staates (IS). Die Nusra-Front setzte Selbstmordattentäter ein und strebte ein „Kalifat“ an. Die USA setzten damals ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar auf Dschulani aus.

    Im Jahr 2016 sagte sich Dschulani von Al-Kaida und dem IS los und wandelte die Nusra-Front ein Jahr später in die HTS um, die global-dschihadistische Ziele aufgab und sich auf den Kampf gegen Assad konzentrierte. Sie eroberte die nordwestliche Provinz Idlib und errichtete dort eine „Regierung der Erlösung“. Menschenrechtler werfen der Gruppe vor, Zivilisten bei Bombenanschlägen getötet und Gegner gefoltert und ermordet zu haben. Dschulani schuf neue Strukturen wie eine Militärakademie und einen Zivilschutz, die es der Gruppe ermöglichen sollten, neue Gebiete zu erobern und zu halten. Die Rechnung ging auf. Beim Überraschungsangriff auf die nordsyrische Metropole Aleppo vor zehn Tagen setzten HTS-Kämpfer moderne Drohnen ein, bevor sie in Richtung Homs und dann Damaskus marschierten.

    Dscholani verkündet eine Ausgangssperre für die Hauptstadt, um Plünderungen zu verhindern

    Nach Assads Flucht am Sonntag nimmt Dschulani Kontakt mit dem bisherigen Ministerpräsidenten Mohammed Dschalali auf, um eine geordnete Machtübergabe zu organisieren. Fernsehbilder zeigen, wie der Premier von bewaffneten Kämpfern aus seinem Haus in Damaskus zu einem Wagen geführt wird, der ihn zu einem Treffen mit den Rebellen bringen soll. „Das ist ein Signal an alle, die noch überlegen, ob sie nicht doch dem alten Regime die Treue halten wollen“, sagt Heiko Wimmen, Projektleiter für Syrien, Irak und Libanon bei der Denkfabrik International Crisis Group, unserer Redaktion.

    Dschulani verkündet eine Ausgangssperre für die Hauptstadt, um Plünderungen zu verhindern, und verbietet sogar Freudenschüsse in die Luft, weil dies die Bewohner von Damaskus verängstige. Der neue starke Mann in Syrien verspricht also einen gerechten Neuanfang. Die HTS erwäge sogar die Selbstauflösung zugunsten von „neuen Institutionen, die die ganze Breite der syrischen Gesellschaft abbilden“, sagt er der Nahost-Expertin Dareen Khalifa von der International Crisis Group. Im CNN-Interview spricht er von einer Regierung, „die vom Volk ausgewählt wird“. Ob Dschulani Wort hält, bleibe abzuwarten, kommentiert Khalifa auf der Plattform X. Viele Syrer hätten „verständliche Sorgen“ angesichts der extremistischen Vergangenheit der HTS.

    Der Präsidentenpalast ist leer. Einige Regimegegner nutzen dies gleich für ein Erinnerungsfoto.
    Der Präsidentenpalast ist leer. Einige Regimegegner nutzen dies gleich für ein Erinnerungsfoto. Foto: Hussein Malla, AP/dpa

    Und das ist nur eine Unwägbarkeit, mit der die Menschen im Land nun konfrontiert sind. HTS mag die mächtigste der Rebellengruppen sein. Aber sie ist eben nur eine. Nach dem Sturz der Assad-Regierung könnte die Rivalität der verschiedenen Akteure wieder stärker hervortreten und in einem Machtvakuum auch zu neuen Kämpfen führen. Zudem gibt es im Norden weitere Rebellengruppen, die von der Türkei unterstützt werden, dazu Kurdenmilizen im Nordosten sowie Zellen des IS, die Anschläge verüben.

    Es ist also unklar, welche Gruppe oder möglicherweise welches neue Bündnis die Macht übernehmen könnte und auch welche Rolle die Soldaten und andere Sicherheitskräfte spielen, die bisher Assad die Treue hielten. Große Teile der syrischen Armee standen nicht mehr hinter dem Diktator, so viel scheint klar. „Die eigenen Soldaten nicht zu bezahlen, ist keine gute Idee“, sagt Experte Heiko Wimmen.

    Erste Syrer, die in die Türkei geflohen waren, machen sich auf den Weg zurück in die Heimat

    Der Jubel im Land ist groß angesichts der Beseitigung des alten Regimes. In vielen Städten feiern die Menschen auf den Straßen. Sie zerstören Denkmäler von Assad und seinem Vater Hafez, der Syrien von 1971 bis zum Jahr 2000 regiert hatte, und hissen die syrische Flagge aus der Zeit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1930. Die Flagge war vom Assad-Regime abgeschafft und beim Beginn des Bürgerkrieges 2011 von der Opposition übernommen worden. Rebellen berichten, sie hätten bereits tausende Inhaftierte aus den berüchtigten Gefängnissen des Assad-Regimes befreit.

    Aber zugleich gibt es viele Menschen, im Land selbst wie auch unter den Millionen Flüchtlingen in Ländern wie Deutschland oder der Türkei, die nun eine neue, andere Gewaltherrschaft unter den aufständischen Islamisten beziehungsweise Auseinandersetzungen zwischen ethnischen Gruppen befürchten. Erste Syrer, die in die Türkei geflohen waren, machen sich bereits auf den Weg zurück in die Heimat. Aber ob daraus eine ganze Bewegung wird?

    Ein Oppositionskämpfer tritt auf den abgetrennten Kopf einer Statue des früheren syrischen Präsidenten Hafez al-Assad.
    Ein Oppositionskämpfer tritt auf den abgetrennten Kopf einer Statue des früheren syrischen Präsidenten Hafez al-Assad. Foto: Hussein Malla, AP/dpa

    Bisher herrschte Assads Minderheit der Alawiten über die sunnitische Mehrheit des Landes. Auch die Christen in Syrien misstrauen den Rebellen. Am Sonntag gibt es keine schweren Gewalttaten zwischen den Volksgruppen, wie es sie nach dem Zusammenbruch der Diktatur von Saddam Hussein im Irak 2003 gegeben hatte. Dschulani verbietet seinen Kämpfern, Zivilisten und öffentliche Institutionen anzugreifen. Sein Appell zur Mäßigung wird aber nicht überall befolgt. Die Syrien-Expertin Rim Turkmani, die Familie in Damaskus hat, berichtet, die Zentralbank werde geplündert.

    Nach Angaben der Vereinten Nationen leben neun von zehn Syrern in Armut

    Ein Grund für den schnellen Zusammenbruch des Regimes lag darin, dass Assad in den vergangenen Jahren nichts unternommen hatte, um das Leben von Normalbürgern zu verbessern. Nach Angaben der Vereinten Nationen leben neun von zehn Syrern in Armut, fast 17 Millionen Menschen brauchen humanitäre Hilfe. Das Regime bereicherte sich am Export der Droge Captagon in andere arabische Länder. Als der Rebellenangriff begann, waren Assads Partner Russland, Iran und die Hisbollah-Miliz durch andere Konflikte abgelenkt und konnten oder wollten ihm nicht helfen. Dass die Rebellen so schnell vorrücken und die syrischen Streitkräfte so schnell aufgeben würden, habe der Iran nicht erwartet, sagt Arif Keskin, Iran-Experte und Autor in der Türkei. Der Iran habe Assad unterstützen wollen, weil Syrien für die iranische Nahost-Politik wichtig sei, sagt Keskin unserer Redaktion. Doch Teheran sei zu schwach gewesen.

    Eine neue syrische Regierung werde ein Interesse daran haben, den Captagon-Schmuggel und den Transport iranischer Waffen über Syrien zur Hisbollah im Libanon zu stoppen, die arabischen Staaten zu Investitionen zu ermutigen und die USA zur Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien zu bewegen, sagt Experte Wimmen. Die Frage nach einer kurdischen Autonomie im Nordosten Syriens werde eine weitere Herausforderung sein. Assad hatte jede Art von Selbstverwaltung für die Kurden abgelehnt, die fünf bis zehn Prozent der syrischen Bevölkerung stellen. Sollte eine Autonomie für die syrischen Kurden vereinbart werden, „dann gibt es allerdings potenzielle Probleme mit der Türkei“, meint Wimmen. Ankara betrachtet die im Bürgerkrieg errichtete kurdische Autonomiezone als Bedrohung der nationalen Sicherheit.

    Dieser Sonntag markiert das Ende einer blutigen Ära. Zugleich ist die Zukunft für Syrien unsicherer denn je.

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    1 Kommentar
    Wolfgang Boeldt

    Es ist natürlich noch viel viel viel zu früh für eine einigermaßen saubere Lagebeurteilung. Ich würde mich aber vermutlich täuschern - die nächsten Monate werdens zeigen - wenn ich glaubte, daß sich die Situation von Syrien und den Syrern verbessern würde.

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