Herr Schwartz, bröckelt die Unterstützung für die von Russland mit einem Vernichtungskrieg überzogene Ukraine?
Thomas Schwartz: Es hat den Anschein, wenn man Äußerungen von Politikern, vor allem in den USA, hört. Solche Stimmen häufen sich auch in Europa. Der Krieg dauert bereits mehr als anderthalb Jahre, es machen sich Ermüdungserscheinungen breit. Das stimmt mich sehr nachdenklich.
Warum genau?
Schwartz: Mich besorgt, wie schnell wir uns an teuflische Situationen offensichtlich gewöhnen. Es gibt einen Abnutzungseffekt bei Grausamkeit und Menschenverachtung, der in uns allen wirkt. Ich kann verstehen, dass andere Themen nach vorne drängen, weil auch sie wichtig sind. Doch vieles hängt mit dem Krieg zusammen, mit dem der russische Machthaber Putin den halben Kontinent in seinen Bann zieht.
Sie sind Hauptgeschäftsführer des katholischen Osteuropahilfswerks Renovabis mit Sitz in Freising und sprechen mit vielen Ukrainerinnen und Ukrainern. Was sagen die Ihnen?
Schwartz: Sie sagen mir: "Wenn ihr uns vergesst, werden wir trotzdem weiterkämpfen." Sie sagen: "Wenn wir unsere Freiheit verlieren, verlieren wir nicht nur unsere nationale Existenz, sondern vielleicht unser Leben." Wir sollten uns fragen, wie wichtig uns eigentlich Freiheit und Demokratie sind. Zu lange haben wir sie als selbstverständlich betrachtet.
In Bayern waren, Stand Juni, rund 150.000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Mehr als 40.000 von ihnen wurden in staatlichen Unterkünften untergebracht, der Rest privat. Ist eine "Belastungsgrenze" erreicht?
Schwartz: So nannte es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der in erster Linie von der Zahl der Asylsuchenden sprach. Aber ja: Wir erleben gerade die Folgen einer verfehlten Migrationspolitik. Die aktuelle Bundesregierung und ihre Vorgänger haben es nicht geschafft, dass die Menschen, die zu uns kommen, relativ schnell hier arbeiten können. Man hat sie sich selbst und den Kommunen überlassen, auch in Bayern. Würden diese Menschen für sich sorgen können und dürfen, wäre die Akzeptanz wesentlich höher – wie das übrigens in Polen der Fall ist.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder setzt im Wahlkampf-Endspurt auf eine härtere Zuwanderungs-Politik.
Schwartz: Ich beobachte ungute Debatten. Aber diese sind Ausdruck einer Überforderung der Politik und der Gesellschaft.
Sie sind auch Priester des Bistums Augsburg. Wie empfinden Sie es, wenn sich Altbundespräsident Joachim Gauck für eine Begrenzung der Zuwanderung ausspricht? Er sagte: "Wir müssen Spielräume entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen." Ein evangelischer Ex-Pastor, der der "Inhumanität" das Wort redet?
Schwartz: Nein, das tut er nicht. Auch Gaucks Satz ist für mich ein Ausdruck der Überforderung und eines Dilemmas. Er merkt, dass ein Kipppunkt der Akzeptanz von Migration erreicht ist in Deutschland – weiß aber nicht, wie eine Begrenzung aussehen könnte. Zugleich weiß er um deren Folgen, die gerade für Betroffene als inhuman erscheinen müssen. Ehrlich gesagt: Ich habe auch keine Antwort.
Gauck hielt kürzlich in München die Festrede zum 30-jährigen Renovabis-Bestehen. Er kritisierte den Umgang Deutschlands mit Putins Russland scharf. Man sei "leichtgläubig" gewesen.
Schwartz: Ich glaube, dass nicht nur die Politik viele Fehler gemacht hat. Wir alle profitierten unter anderem vom billigen russischen Gas! Doch zu denken, Putin sei ja gar nicht so schlimm, das war in der Tat leichtgläubig.
Sie haben den Bundestag aufgefordert, eine Enquête-Kommission einzusetzen: Die deutsch-russischen Beziehungen müssten "schonungslos" aufgearbeitet werden. Wie sind die Reaktionen darauf ausgefallen?
Schwartz: Leider sehr dürftig. Was auch mit den Landtagswahlkämpfen in Bayern und Hessen zusammenhängt. Mitten im Wahlkampf will man sich offensichtlich nicht mit einem derartigen Thema beschäftigen. Dabei könnte eine Enquête-Kommission eine parteiübergreifende, sachliche Aufarbeitung leisten. Sie könnte fragen: Welche Lehren sind zu ziehen, um eine bessere Politik zu gestalten und demokratiezersetzenden Kräften vorzubeugen?
Die Noch-Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht oder die frühere evangelische Landesbischöfin Margot Käßmann fordern einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine, sofortige Friedensverhandlungen und einen Stopp der Waffenlieferungen...
Schwartz: Wer so etwas verlangt, verkennt die Menschenfeindlichkeit des russischen Systems. Ich habe den Eindruck, dass sich Wagenknecht und Käßmann mit solchen Forderungen zu Stimmen Putins in Deutschland machen. Ich kann auch nicht verstehen, wie sie so etwas über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg sagen können. Wenn wir die Ukraine nicht mehr unterstützen, sind wir mitverantwortlich für ihre Vernichtung.
Sie sind für Waffenlieferungen? Auch für Taurus-Marschflugkörper, mit denen sich die Bundesregierung derzeit so schwertut?
Schwartz: Ja. Ich sehe ethisch hier keinerlei Unterschied zu anderen Marschflugkörpern. Es geht um Hilfe zur Selbsthilfe. Und die Ukraine hielt sich an alle Abmachungen, auch an die, mit westlichen Waffen russisches Territorium nicht anzugreifen.
Aber führen mehr Waffen wirklich zu einem Ende des Krieges?
Schwartz: Im Moment sehe ich keinen anderen Weg: Russland muss einsehen, dass es mehr zu verlieren als zu gewinnen hat, wenn es nicht in Verhandlungen eintritt. Dazu muss die Ukraine in eine Position der Stärke gebracht werden.
Wie kann da ein Hilfswerk mit Sitz in Freising helfen?
Schwartz: Wir versuchen, diplomatische Brücken zu bauen. Wir haben ein großes Netzwerk und viele Partner. Daher war uns – im Gegensatz zu Frau Wagenknecht – auch bereits Monate vor Beginn der Invasion klar, dass es dazu kommen könnte. Zudem leisten wir Hilfe zur Selbsthilfe, humanitäre Hilfe, im vergangenen Jahr mit knapp 15 Millionen Euro.
Zur Person: Der gebürtige Pfälzer Thomas Schwartz, 59, ist seit fast zwei Jahren Hauptgeschäftsführer von Renovabis. Bundesweit bekannt wurde er durch seine gemeinsamen TV-Auftritte mit dem Astrophysiker Harald Lesch.