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Interview: So denkt Linda Zervakis über ihren Migrationshintergrund

Interview

So denkt Linda Zervakis über ihren Migrationshintergrund

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    Linda Zervakis, 45, lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Hamburg. Die „Tagesschau“ moderiert sie seit Mai 2013.
    Linda Zervakis, 45, lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Hamburg. Die „Tagesschau“ moderiert sie seit Mai 2013. Foto: Henning Kaiser, dpa

    Frau Zervakis, diese Woche ist Ihr Buch erschienen: "Etsikietsi – Auf der Suche nach meinen Wurzeln". Was hat Sie dazu motiviert, die Geschichte Ihrer Familie darin zu verarbeiten?

    Linda Zervakis: Meine Mutter hat eine Art Tagebuch geschrieben, als sie in Rente gegangen ist. Da hatte sie sozusagen das erste Mal in ihrem Leben Zeit zum Reflektieren, und da hat sie ihre Memoiren verfasst.

    Ihre Mutter hat die Geschichte aufgeschrieben und sie Ihnen eines Tages beim Essen überreicht. Und dann?

    Zervakis: Sie sagte: "Guck mal, was ich gemacht habe." Ich habe mir das Tagebuch mit nach Hause genommen und habe es in Ruhe durchgelesen. Für mich war das ganz faszinierend, weil ich gemerkt habe, dass ich viele Geschichten meiner Familie gar nicht kannte. Ich wusste von ihrem Leben auch nur aus schemenhaften Andeutungen. So wollte sie beispielsweise mal eine Schauspielschule besuchen. Das durfte sie aber nicht. Sie hatte insgesamt zweimal im Leben die Chance aufzusteigen und beide Male wurde es ihr nicht gewährt. Und als ich das las, ist mir klar geworden, dass ich ihren Traum lebe. Deswegen habe ich gedacht, ich schreibe darüber ein Buch und widme es ihr. So hat sie vielleicht das Gefühl, es hat sich doch gelohnt, nach Deutschland zu kommen.

    Über die Ausreise nach Deutschland steht im Buch allerdings nichts.

    Zervakis: Ich selbst bin ja in Hamburg geboren. Und die Geschichte, als meine Eltern als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, ist in meinem ersten Buch "Die Königin der bunten Tüte" beschrieben. Meine Eltern haben erst in Fabriken gearbeitet und wollten eigentlich nach spätestens zwei Jahren wieder zurück nach Griechenland. Aber dann kamen mein großer Bruder, ich und mein kleinerer Bruder zur Welt und sie sind geblieben. Mein Vater ist gestorben, als ich 14 Jahre alt war. Dadurch musste meine Mutter unseren Kiosk übernehmen. Da hat sie dann jeden Tag fast 15 Stunden verbracht.

    Und jetzt ist sie im Ruhestand?

    Zervakis: Ja, jetzt sind auch Enkelkinder da. Und in Griechenland hat sich inzwischen so viel verändert. So will sie nicht mehr zurück in die Heimat.

    Warum sind Ihre Eltern damals gerade nach Hamburg gekommen?

    Zervakis: Stuttgart war schon voll von den Griechen (lacht)! Nein, sie sind mehr oder weniger zufällig in Quakenbrück in einer Fahrradfabrik gelandet. Und schließlich dachten sie, dass die schulische Ausbildung in Deutschland besser ist als in Griechenland. Dahinter stand auch der typische Wunsch von Gastarbeitern: Unsere Kinder sollen es mal besser haben.

    Ihr Großvater war der einzige Mann, der in seinem Dorf lesen konnte. Er las dem Popen und dem Bürgermeister täglich aus der Zeitung vor – so ähnlich, wie sie heute in der Tagesschau der Nation die Nachrichten präsentieren. Glauben Sie, das Nachrichten-Gen hat damals schon gewirkt?

    Zervakis: Das muss so sein, anders kann ich mir das nicht erklären (lacht). Nein, ich weiß es nicht, aber es wäre doch ein schöner Gedanke. So kann ich ja auch Grüße nach oben senden.

    Welche Botschaft wollen Sie dem Leser mit dem Buch vermitteln?

    Zervakis: Die Botschaft lautet: Es ist gut, wenn man weiß, woher man kommt. Das hilft mir auch oft, entspannt zu bleiben. Der Familienzusammenhalt, den ich erleben durfte, stärkt mich. Weil die Welt, in der ich mich heute bewege, bunt und schrill ist. Da gibt es viel Konkurrenzdenken, das anstrengend sein kann. Ich möchte mich aber gar nicht dauernd mit jemandem messen, sondern denke mir dann: Lasst mich doch einfach meinen Job machen. Aber manchmal geht das eben in dieser komischen Welt nicht.

    Sie schreiben, Sie hätten nie viel über die Familiengeschichte daheim gesprochen. Was haben Sie selbst über ihre Familie erfahren, was Sie zuvor noch nicht gewusst haben?

    Zervakis: Na ja, dass die Familie sich immer wieder neu erfunden hat. Und: Die meisten Verwandten in Griechenland haben nicht viel Geld, aber sie sind glücklich. Da würde ich mir gerne eine Scheibe abschneiden. Die laufen mit einer Heiterkeit durchs Leben, obwohl sie durch die Finanzkrise wirklich anstrengende Jahre hinter sich haben. Und ich aus dem Wohlstandsland Deutschland komme dann mit einer Meckermentalität und rege mich über Kleinigkeiten auf. Das ist manchmal schon fast beschämend. Der Zusammenhalt in der Gemeinschaft ist deutlich besser als bei uns. Freunde in Thessaloniki, die finanziell gebeutelt waren, haben beispielsweise gegenseitig Abendessen veranstaltet, statt ins Restaurant zu gehen. So hatten sie auch das Gefühl, gemeinsam etwas zu unternehmen. Es tut ganz gut, sich die Schönheit des einfachen Lebens ab und zu vor Augen zu führen.

    Ist das einfache Leben nicht vielleicht sowieso schöner, als immer unter Druck zu sein, materiell besser als der Nachbar dazustehen? Schöneres Haus, exotischerer Urlaub, größeres Auto..?

    Zervakis: Ja, das ist so eine gute Einstellung. Ich habe das in den ersten vier Corona-Wochen erlebt, als ich gemerkt habe, dass ich viele Sachen gar nicht brauche. Ich mag das Vergleichen mit anderen aber sowieso nicht so gerne. Das kenne ich noch aus der Schule: ,Ui schau, die hat einen hübscheren Pullover!‘ Aber das habe ich über die Jahre abgelegt, weil mir das zu viel Kraft raubt.

    Aber gerade in den sozialen Netzwerken inszenieren sich die Menschen geradezu operettenhaft.

    Zervakis: Mir wäre das alles zu viel. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste jeden Tag ein Video auf Instagram stellen – furchtbar. Ich weiß gar nicht, wann die Leute das alles machen. Und es gibt ja Reportagen über die Top-Influencer, in denen klar wird, dass die fast zusammenbrechen, weil die am realen Leben gar nicht mehr teilnehmen.

    Wie war es eigentlich für Sie, während der griechischen Finanzkrise, als viele Deutsche über Griechenland herzogen?

    Zervakis: Das war schon nicht ohne. Auch in den Nachrichtensendungen hatte ich ja oft etwas zu verkünden. Da fiel es mir nicht immer leicht, keine Reaktion zu zeigen. Aber das wird in der Tagesschau nun mal verlangt. Ich fand es teilweise auch erschütternd, was über Griechenland zu lesen war. Da wurde ganz schön draufgehauen und das Stereotyp von den faulen Griechen bedient.

    Sie sprechen Griechisch, schreiben Sie. Wo haben Sie das gelernt?

    Zervakis: Zuhause, von meinen Eltern. Und ich war nachmittags nach der deutschen Schule noch sechs Jahre lang auf einer griechischen Schule.

    Sie sind die erste Tagesschau-Sprecherin mit Migrationshintergrund. Wie finden Sie diese Aussage eigentlich?

    Zervakis: Ich halte das für überflüssig. Ich hatte das vorher ja auch nicht. Nie musste ich mich vorstellen: "Hallo, mein Name ist Linda Zervakis und habe einen Migrationshintergrund." Das war weder in der Schule noch in einer Werbeagentur ein Thema. Auch nicht beim Radio. Erst bei der Tagesschau hat man es zum Thema gemacht. Aber es geht noch schlimmer: Als Susanne Daubner in den 90er Jahren zur Tagesschau gekommen ist, lautete die Schlagzeile: Die erste brünette Tagesschau-Sprecherin.

    Ist Ihre Mutter denn stolz auf Ihre Karriere?

    Zervakis: Oh, das glaube ich schon. Ich weiß, dass sie sich bei meiner ersten Nachtschicht den Wecker gestellt hat, und als sie mich gesehen hat, hat sie geweint.

    Welche Griechen zugeschriebenen typische Eigenschaft kennen Sie auch an sich?

    Zervakis: Ich kann sehr impulsiv sein. Also, ich lache zum Beispiel sehr laut. Auch beim Autofahren können bei mir schon mal die Pferde durchgehen. Allerdings reiße ich mich da meistens am Riemen, weil ich nicht als "pöbelnde Zervakis" in der Bild-Zeitung landen möchte.

    Und was ist typisch deutsch?

    Zervakis: Die Disziplin. Ich bin pünktlich und halte mein Wort. Wenn ich sage 15 Uhr, komme ich auch um die Uhrzeit. In Griechenland ist das anders. Da heißt es: Wieso? Wir haben doch gesagt: nachmittags.

    Zum Buch: "Etsikietsi – Auf der Suche nach meinen Wurzeln" Rowohlt-Verlag, 208 Seiten, 16 Euro.

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