Frau Sawatzki, weltweit erobern Märchen die Kinokassen und Bestsellerlisten. Warum sind wir heute so märchenhungrig?
ANDREA SAWATZKI: Vielleicht, weil wir der Realität für einen Augenblick entfliehen wollen. Märchenfilme sind zumeist farbenprächtig. Die Ausstattung, die Kostüme, ziehen uns in eine Traumwelt, fern von der harten Realität. Zudem siegen in den Märchen zumeist Frieden, Liebe und Zuversicht. Das gibt Hoffnung.
Aus gegebenem Anlass: Was ist Ihr Lieblingsmärchen?
SAWATZKI: "Der Tannenbaum" von Hans Christian Andersen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Pflanzen, dass Bäume Schmerzen empfinden. Einen jungen Baum abzuhacken, finde ich ziemlich heftig. Bei Andersen ist der Baum anfangs sehr glücklich und stolz über den glitzernden Schmuck, mit dem er versehen wird. Er freut sich, beim Weihnachtsfest dabei sein zu dürfen, ist selig über das Kinderlachen. Nach dem Fest wird der Schmuck abgerissen und er wird auf den Dachboden geworfen, wo er langsam, umgeben von Dunkelheit und Kälte, stirbt.
Ihr neuester Märchenfilm wird an Weihnachten ausgestrahlt und heißt "Rapunzel und die Rückkehr der Falken" (ZDF, 24.12.). Was fasziniert Sie persönlich an Märchenstoffen?
SAWATZKI: Einerseits die schaurige Gewissheit, dass man den bösen Mächten im Leben nicht entgehen kann, dass alles eine Art Vorsehung ist. Zumindest überschneidet sich das mit meinem persönlichen Empfinden. Andererseits, dass einem die Liebe und das Vertrauen und die Zuversicht dabei helfen werden, weiterzukämpfen und so eventuell doch wieder etwas Licht in eine dunkle Lebensphase zu bringen.
Sie spielen diesmal eine Zauberin und nicht die böse Königin oder eine Hexe. Was macht mehr Spaß?
SAWATZKI: Ich war tatsächlich überrascht, dass ich mal die "Gute" spielen durfte. Und anfangs dachte ich, ach, in der Königin liegt ja viel mehr Spielmaterial, weil sie so böse und hintergründig ist. Aber dann habe ich mich total in meine Eleonore verliebt. Sie hat ja auch einiges durchgemacht und Ecken und Kanten und sie ist mir tatsächlich sehr ans Herz gewachsen.
Haben Sie eine Traumrolle in Märchenfilmen?
SAWATZKI: Ich hatte bisher die böse und die gute Zauberin, das macht mich ziemlich glücklich. Im Grunde würde ich in Märchen alles spielen, es ist immer fantastisch. Allein schon in den Kulissen herumzulaufen, die alten Tapeten zu berühren, die bröckeligen Turmstiegen zu erklimmen, dabei den Brokatrock zu lupfen, das ist eine andere Welt und wirklich magisch.
Haben Sie selbst als Kind auch viel Märchen gelesen?
SAWATZKI: Meine Mutter hat mir alles vorgelesen, von Grimm über Andersen zu Hauff und dann natürlich die "Geschichten am Französischen Kamin", eine Art Sammlung neuerer Märchen.
Unterscheidet sich der Märchenstoff für die Arbeit einer Schauspielerin von beispielsweise einem Krimi?
SAWATZKI: Natürlich. Die Sprache ist eine ganz andere und eng gebunden an die ursprüngliche Fassung. Es ist schön, auch mal ohne sogenannte "Füllsel" auszukommen und einen Satz gerade durchzusprechen. Man bewegt sich durch die schwere Kleidung auch anders, im Grunde gleitet man als Schauspieler augenblicklich aus der "Jetzt"-Zeit. Ein Trip in eine andere Welt.
Ein anderer Film von Ihnen, "Brüderchen und Schwesterchen", wurde im Atelier der Schonger-Film in Inning am Ammersee produziert. Die Außenaufnahmen entstanden auf Schloss Hohenschwangau, in Füssen und auf der Burg Trausnitz. Wo entstand der neue Film?
SAWATZKI: In Tschechien, in der wundervollen Umgebung von Prag , genauer gesagt in der sächsischen Schweiz und in dem riesigen, beeindruckenden Barrandow-Filmstudio in Prag.
Sind Grimm'sche Märchen - in gewisser Weise brutale Stoffe, die eine grausame Welt beschreiben - noch zeitgemäß?
SAWATZKI: Ich glaube, das, was man vielen Kindern sonst heutzutage so zumutet, ist oftmals grausamer als gemeinsam ein Märchen zu lesen oder zu gucken. Zusätzlich siegt im Märchen, anders als im Leben, grundsätzlich das Gute.
Ist das ein Erfolgsgeheimnis?
SAWATZKI: Bestimmt. Wer von uns wünscht sich nicht, dass das Gute am Ende siegt...
Warum sind Märchen für die Entwicklung von Kindern wichtig?
SAWATZKI: Sie führen die Kinder hinab in das Düstere, das Albtraumhafte. Es ist ja nicht so, dass Kinder frei von Ängsten sind, auch wenn sie womöglich nie vergleichbare Situationen erlebt haben. Sie identifizieren sich mit den jungen Protagonisten, die oftmals in ihrem Alter sind. Aber anstatt aufzugeben, beginnen die Protagonisten zu kämpfen, nach Auswegen aus scheinbar unlösbaren Situationen zu suchen. Sie geben nicht auf. Das verhilft den jungen Zuschauern und Lesern vielleicht zu dem Gefühl, es ihnen gleichtun zu können. Nicht aufzugeben. Das ist etwas, das gerade in der heutigen Zeit ungemein wichtig geworden ist. An sich zu glauben und seine Meinung zu verteidigen. Auch, wenn man damit aneckt. Sich von den zahllosen Mitläufern zu distanzieren und sich immer wieder seiner Eigenständigkeit, seiner Individualität und Kraft zu vergewissern. Das ist ein Geschenk, das jeder von uns wertschätzen sollte.
Zur Person
Andrea Sawatzki, 60, begann ihre Karriere in München. Berühmt ist sie vor allem durch ihre Zeit im Frankfurter "Tatort" und als "Gundula Bundschuh" in der ZDF-Komödienserie "Familie Bundschuh", deren Drehbücher sie auch schreibt. Sie lebt mit ihrem Mann Christian Berkel in Berlin.