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Interview: Psychotherapeut über Massentrauer: "Gefühle sind immer echt"

Interview

Psychotherapeut über Massentrauer: "Gefühle sind immer echt"

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    Eine Frau kniet im Green Park Memorial neben dem Buckingham Palace inmitten von Blumen, die anlässlich des Todes von Königin Elizabeth II. niedergelegt worden sind.
    Eine Frau kniet im Green Park Memorial neben dem Buckingham Palace inmitten von Blumen, die anlässlich des Todes von Königin Elizabeth II. niedergelegt worden sind. Foto: Emilio Morenatti, dpa/AP

    Zu Tausenden warteten Menschen stundenlang, um den Sarg von Queen Elizabeth II. zu sehen. Einer Umfrage zufolge hat fast jede und jeder zweite Erwachsene in Großbritannien Tränen vergossen. Woher kommt diese große Anteilnahme?

    Dr. Christian Lüdke: Das hat erst einmal einen genetischen Ursprung. Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir haben immer in Gruppen, Herden und Verbänden gelebt und ohne sie könnten wir nicht überleben. Das steckt bis heute in uns drin. Dann kommt hinzu, dass ein ganz besonderer Mensch gestorben ist. Die Queen war ein Vorbild und eine Lebensbegleiterin. Die meisten kennen gar niemand anderen auf dem britischen Thron als sie. Das schafft eine starke emotionale Verbindung. Sie war für manche zum Beispiel die liebe Omi, die sie selbst nicht hatten. Und sie stand für Kontinuität und Sicherheit. Das brauchen wir in schwierigen Zeiten. Jetzt, mit ihrem Tod, werden wir als Herde erschüttert.

    Zahlreiche Menschen warten in einer langen Schlange, um an dem in der Westminster Hall aufgebahrten Sarg von Königin Elizabeth II. Abschied zu nehmen.
    Zahlreiche Menschen warten in einer langen Schlange, um an dem in der Westminster Hall aufgebahrten Sarg von Königin Elizabeth II. Abschied zu nehmen. Foto: Christian Charisius, dpa

    Viele der Trauernden haben Queen Elizabeth II. gar nie persönlich getroffen. Auch Deutsche trauern, obwohl sie gar nicht unter der britischen Krone leben. Warum ist das so?

    Lüdke: Wir müssen sie nicht selbst getroffen haben, damit wir um sie trauern. Mit einem König oder einer Königin verbinden wir viele kindliche Fantasien, Bilder und Geschichten. Die Königin steht für Schutz, Sicherheit und Geborgenheit. Das sind Grundbedürfnisse des Menschen. Auch aus Deutschland können wir das so betrachten und dabei Teil dieser tollen, heilen Welt sein wollen. Wer schafft es schon, 70 Jahre auf dem Thron zu sitzen oder 96 Jahre alt zu werden? Außerdem war die Queen sehr präsent, ob auf Souvenirs, in Liedern wie "God save the Queen" oder in den Medien. Sie ist ein wahrer Erinnerungsanker.

    Seit wann gibt es das Phänomen der Massentrauer?

    Lüdke: Das hat es schon immer gegeben. Das geht wahrscheinlich bis in die Steinzeit zurück. Es trauerte immer die ganze Gruppe.

    Dann ist jetzt mit den Massenmedien die Gruppe einfach nur größer geworden?

    Lüdke: Ja, die Gruppen sind größer und mit den sozialen Medien erreicht man viel mehr Menschen. Da hat man das Gefühl, richtig dabei zu sein. Ständig gibt es neue Bilder und Live-Aufnahmen, während es früher nur eine Schlagzeile gewesen wäre. Zum Beispiel um Michael Jackson und Elvis Presley trauerten auch die Massen.

    Ist die Trauer um Angehörige einer guten Freundin "echter" als die Trauer um die Queen?

    Lüdke: Nein, auch die Trauer um die Queen ist echt. Es gibt keine falschen Gefühle. Wir können uns verrechnen, aber nicht "verfühlen". Man unterscheidet aber zwischen einem normalen, gesunden Trauerprozess und einem komplizierten. Die Queen ist mit 96 Jahren gestorben. Das ist der Lauf des Lebens. Da kommt es zu einem normalen Trauerprozess. Wenn zum Beispiel ein Kind stirbt, ist das anders. Da werden Lebensgesetze gebrochen und es kommt häufig zu einem komplizierten Trauerprozess. In der Folge können Menschen an gebrochenem Herzen sterben oder Ehen auseinanderbrechen, weil sie die Trauer nicht bewältigen können. Aber Gefühle sind immer echt und immer richtig.

    Dr. Christian Lüdke (62) aus Lünen in Nordrheinwestfalen ist Traumatherapeut und auf psychologische Notfallhilfe spezialisiert.
    Dr. Christian Lüdke (62) aus Lünen in Nordrheinwestfalen ist Traumatherapeut und auf psychologische Notfallhilfe spezialisiert. Foto: Lüdke

    Viele Menschen legen Blumen und Karten am Buckingham Palace, vor Statuen der Queen und an anderen Orten nieder. Dieses Ritual wird sonst zum Beispiel nach einem tödlichen Unfall durchgeführt. Warum machen die Menschen das jetzt nach dem Tod der Queen?

    Lüdke: Sie sagen es schon: Es sind Rituale. Sie sind ein Symbol, ein äußeres Zeichen einer inneren Verpflichtung. Wenn man die Queen viele Jahre lang angehimmelt hat, dann spürt man diese Verpflichtung. Dieses Ritual ist ein Ausdruck der eigenen Wertschätzung, der Dankbarkeit und ein Zeichen des Abschieds. Auf diese Weise zeigen die Trauernden ihre innere Haltung.

    Ist es gut, dass so viele Menschen um die Queen trauern oder vergrößert es eventuell sogar das Leid für die Königsfamilie?

    Lüdke: Geteiltes Leid ist halbes Leid. Die Menschen empfinden das eher als Wertschätzung, so habe ich das in meiner Arbeit immer wieder erlebt. Schwieriger wird es, wenn die Aufmerksamkeit abflacht. Aber letzten Endes bleibt die Freude über diesen tollen Menschen.

    Zur Person: Dr. Christian Lüdke (62) aus Lünen in Nordrhein-Westfalen ist Traumatherapeut und auf psychologische Notfallhilfe spezialisiert. Er betreute Menschen zum Beispiel nach den Anschlägen auf den Berliner Weihnachtsmarkt und auf das Münchener Olympia-Einkaufszentrum im Jahr 2016. Außerdem ist Lüdke klinischer Hypnotherapeut und Kinder- und Jugendpsychotherapeut.

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