Herr Wastl, vor fast genau zwei Jahren haben Sie das Missbrauchsgutachten Ihrer Kanzlei für die Erzdiözese München und Freising vorgestellt. In dem warfen Sie sogar dem früheren Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger, damals der emeritierte Papst Benedikt XVI., Fehlverhalten in vier Fällen vor. Wie schwierig war es, das zu veröffentlichen?
ULRICH WASTL: Schwierig ist der falsche Begriff. Aber es gab nicht nur im Falle Benedikts Einflussnahmeversuche und Drohszenarien. Es wurde über Bande gespielt, verzögert und auf unseren Auftraggeber, die Erzdiözese München und Freising, eingewirkt.
Etwa, um den Ruf Benedikts zu schützen?
WASTL: Ich würde es so sagen: Das Vorgehen in seinem Fall ließ für uns nicht erkennen, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Problematik gewünscht war. Es gab von vorneherein eine jegliche Schuld abwehrende Verteidigungshaltung. Es wurde eine Wand aufgebaut, hinter die wir nicht schauen sollten, so mein Eindruck. Bei Friedrich Kardinal Wetter war das anders: Er hat sich mit der Sache auseinandergesetzt und war der einzige, der jedenfalls in einem Fall zu seiner persönlichen Schuld gestanden hat. Das verdient meinen Respekt.
Stand denn die Veröffentlichung des Gutachtens infrage?
WASTL: Es gab immer wieder schwierige Situationen, aber die Veröffentlichung des gesamten Gutachtens stand aus unserer Sicht nie ernsthaft infrage. Schließlich erhielten wir ja auch eine 82-seitige Stellungnahme Benedikts. Ich empfehle jedem, sie zu lesen. Sie spricht für sich.
Sie haben einmal erzählt, dass der langjährige Privatsekretär Benedikts, Georg Gänswein, Druck auf Sie auszuüben versuchte. Wie muss man sich das vorstellen?
WASTL: Er schickte uns zum Beispiel etwa zehn Seiten an äußerungsrechtlichen Ausführungen. Ein Versuch, uns den Rahmen vorzugeben, in dem wir überhaupt arbeiten hätten dürfen. Ähnliches trug uns später unser Auftraggeber vor. Allerdings stand das Erzbistum letztlich ganz klar hinter dem Gutachten und unserer Unabhängigkeit. Welche Personen alle Einfluss zu nehmen versuchten, kann ich gar nicht sagen. Was ich sagen kann: Unser Gutachten hat allen Einfluss- und Drohversuchen standgehalten, seit zwei Jahren ist es unverändert auf unserer Internetseite einsehbar. Für mich zeigt das, dass es Rückgrat braucht. Denn solche Versuche wurden und werden in anderen Aufarbeitungsprojekten immer wieder unternommen. Ich will nicht ausschließen, dass sie Erfolg haben könnten – trifft es nicht eine Rechtsanwaltskanzlei, die über das nötige juristische Know-how verfügt, sondern vielleicht Historiker, Psychologen oder Missbrauchsbetroffene.
Was hat sich seit Veröffentlichung des Gutachtens in der katholischen Kirche in Sachen Missbrauchsaufarbeitung zum Positiven hin verändert?
WASTL: Ich glaube, dass endlich eine Konzentration auf die Betroffenenperspektive Einzug gehalten hat. Man muss diese zunächst einmal einnehmen, um zu verstehen, was passiert ist. Das ist zwingend erforderlich und mittlerweile zum Glück Standard.
Sie haben zur Einrichtung einer unabhängigen Stelle geraten, die Betroffenen hilft, auf Augenhöhe mit der Kirche oder anderen Institutionen zu verhandeln. Erfüllt die von der bayerischen CSU-Sozialministerin Ulrike Scharf vor wenigen Monaten eingerichtete "Anlaufstelle für Opfer von Missbrauch und sexualisierter Gewalt" diesen Anspruch?
WASTL: Um es deutlich zu sagen: Das ist ein Witz! Mit unserer Empfehlung hat diese Stelle allenfalls ansatzweise etwas zu tun. Ich habe den Eindruck, deren Einrichtung war mehr oder weniger dem Landtagswahlkampf geschuldet. Wichtig wäre weiterhin eine gänzlich unabhängige und entsprechend finanziell ausgestattete Stelle, die Betroffene nicht nur umfassend berät, sondern auch deren Interessen vertritt. Es muss endlich ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen Betroffenen und Kirche hergestellt werden!
Was die katholische Kirche in Deutschland betrifft, zeigen sich deren Aufarbeitungsbemühungen als Flickenteppich. Noch immer hat nicht jedes Bistum eine eigene Studie oder ein Gutachten.
WASTL: Und das im Jahr 2024! Dabei weiß man auch in Deutschland seit 2002, jedenfalls aber seit 2010, welche Probleme es gibt.
2002 berichtete der Spiegel über einen "Skandal um Hunderte pädophiler Priester in den USA". Der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Mainzer Kardinal Karl Lehmann, sagte: "Wir haben das Problem nicht in diesem Ausmaß. Warum soll ich mir den Schuh der Amerikaner anziehen, wenn er mir nicht passt?"
WASTL: Es gab seitdem einige Studien. Aber nochmals: Wir haben das Jahr 2024! Und man erfährt als geneigter Leser, dass zum Beispiel das Bistum Passau die Ergebnisse seiner Missbrauchsstudie im Herbst 2025 vorstellen will. Wie lange müssen Betroffene eigentlich noch auf Antworten warten? Und: Wie viele Betroffene sind bereits gestorben, ohne Antworten? Das waren sicher Hunderte, wenn nicht Tausende. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Es braucht keine weiteren Fakten mehr, um endlich, nach 22, jedenfalls aber 14 Jahren umfassend zu handeln.
Für das Bistum Augsburg soll das Department Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München eine Studie durchführen, die sich vor allem mit den Auswirkungen sexualisierter Gewalt auf Betroffene befasst. Einem der drei unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Diözese geht dies nicht weit genug. Er fordert eine Studie, in der die Namen mutmaßlicher klerikaler Täter oder Vertuscher genannt werden.
WASTL: Ich teile diese Ansicht. Eine psychologische Studie ist zweifellos interessant. Aber was im Bistum Augsburg fehlt, sollte es allein bei dieser Studie bleiben, das ist eine wirklich umfassende, völlig unabhängige und transparente forensische Aufklärung des Sachverhalts. Jeder, der sich mit Missbrauchsbetroffenen unterhalten hat, weiß: Es ist für sie zu Recht von besonderer Wichtigkeit, dass die Institution und die Verantwortlichen ihre Schuld bekennen. Dazu gehört unabdingbar, dass man in einem ersten Schritt aufklärt, dass man also Verantwortliche sucht und wenn rechtlich möglich öffentlich benennt. So gibt man auch den Verantwortlichen die Möglichkeit, Stellung zu beziehen oder ihre Schuld einzuräumen. Weitestmöglich vollständige Aufklärung ist die zwingende Basis für Aufarbeitung und vor allem auch Verarbeitung. Das darf man nicht übergehen. Sonst haben alle anderen Bemühungen kaum einen Wert.
Der Augsburger Bischof Bertram Meier lehnte es kürzlich zunächst einmal ab, einem Missbrauchsopfer 150.000 Euro zu zahlen. Das hatte die "Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen" (UKA) entschieden. Es soll weitere Gespräche geben ...
WASTL: Mich hat das erschüttert, obwohl wir uns als unabhängige Gutachter mit der Entschädigungsfrage bislang nicht abschließend beschäftigt haben. Das von den deutschen Bischöfen installierte System der Anerkennungsleistungen orientiert sich ausdrücklich an Entscheidungen staatlicher Gerichte über Schmerzensgeldzahlungen. Seit Sommer 2023 gibt es ein rechtskräftiges Urteil, dem zufolge das Erzbistum Köln einem Missbrauchsbetroffenen 300.000 Euro Schmerzensgeld zahlen muss.
Das Bistum Augsburg sollte also ohne weitere Diskussion zahlen?
WASTL: Dass der Augsburger Bischof die Entscheidung der UKA ablehnt mit dem Argument, die Zahlung von 150.000 Euro stelle einen "vollständigen Paradigmenwechsel" dar, kann ich nicht nachvollziehen. Ich verstehe nicht, wie ein deutscher Bischof in diesem Zusammenhang über 150.000 Euro diskutieren kann. Wenn er dies tun möchte, sollte er offen sagen, dass er das unbestritten intransparente System der Anerkennungsleistungen ablehnt oder nicht weiter mittragen möchte. Aber natürlich bleibt dann die Diskussion über die aus ihrem Selbstverständnis resultierenden moralischen Verpflichtungen der Kirche.
Treten auch andere Bistümer auf die Bremse?
WASTL: Ich beobachte im Bereich der kirchlichen Missbrauchsaufarbeitung Anzeichen einer Gegenbewegung. Nach durchaus lobenswerten Anstrengungen wird unter anderem nicht mehr so offen über die systemischen Ursachen diskutiert. Beharrungskräfte werden wieder stärker.
Viele Fälle sind verjährt, die Kirche zahlt freiwillig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht.
WASTL: Die katholische Kirche in Deutschland hätte ihrer moralischen Verpflichtung gerecht werden, ja als Vorbild für andere Institutionen gelten können – hätte sie ein Fonds- oder Stiftungsmodell unterstützt. Und das bereits nach Bekanntwerden einer Reihe von Missbrauchsfällen im Jahr 2010 im Kloster Ettal, bei den Regensburger Domspatzen und andernorts. Ich denke da an das Modell der Zwangsarbeiterentschädigungen. Man hätte mithilfe des Staates eine Stiftung gründen können, in die die Kirche Gelder einzahlt. Missbrauchsbetroffene hätten sich ernstgenommen gefühlt und frühzeitig eine adäquate Entschädigung erhalten. Eine solche Stiftung wäre nach wie vor möglich. Lieber spät als nie.
Halten Sie das für realistisch?
WASTL: Die katholischen Bischöfe sind aus meiner Sicht nicht in der Lage, darüber zu entscheiden, denn die Bischofskonferenz ist derzeit in vielen Fragen zu zerrissen. Mir ist noch etwas wichtig: Jede und jeder Betroffene muss ein Recht darauf haben, dass ihr oder sein Fall ordentlich, nach bestimmten Standards aufgeklärt wird. Hierzu wäre ein Aufarbeitungsgesetz, ein einklagbares Recht auf Aufarbeitung, jedenfalls aber ein klares und parteiübergreifendes politisches Bekenntnis wünschenswert. Das würde dann auch nicht nur die Kirche betreffen. Aber auch hier gilt: Es muss jetzt endlich konsequent und schnellstmöglich gehandelt werden.
In anderen Ländern hat die Aufarbeitung noch gar nicht richtig begonnen. Erst kürzlich hat die Diözese Bozen-Brixen als erste in Italien überhaupt eine Missbrauchsstudie in Auftrag gegeben – bei Ihrer Kanzlei.
WASTL: Wir sind hier federführend tätig, aber natürlich arbeiten wir mit Südtiroler Kollegen zusammen. So, wie wir das ähnlich bereits in Spanien oder Portugal, wenn dort auch nicht federführend, getan haben. In Südtirol heißt das Aufarbeitungsprojekt "Mut zum Hinsehen" – und es gehört in Italien wirklich sehr viel Mut der Entscheidungsträger dazu, so etwas voranzutreiben. In der Diözese Bozen-Brixen scheiterten bereits zwei Projekte. Nun bin ich sehr zuversichtlich.
Warum ist Aufarbeitung in Italien derart schwierig? Immerhin hat der Bischof von Rom, Papst Franziskus, mehrfach starke Worte gegen sexualisierte Gewalt durch Kleriker gefunden.
WASTL: Italien, das den Vatikan umschließt, ist ein katholisches Kerngebiet. Der Katholizismus ist stark verankert – und man will auch aus Eigeninteresse eher nicht an der Institution Kirche rütteln. In Spanien ist das ähnlich. Auch dort hat die Kirche in manchen Bereichen nach wie vor eine dominante Stellung, und es gibt verkrustete Strukturen.
In Spanien beraten Sie eine Anwaltskanzlei, die von der Spanischen Bischofskonferenz mit einer unabhängigen Untersuchung beauftragt wurde …
WASTL: … und ich bin gespannt darauf, welche Konsequenzen die Spanische Bischofskonferenz daraus ziehen wird. Was wir immer wieder erleben, ist, dass erst öffentlicher, medialer Druck die Kirche zum Handeln bringt.
Gibt es eigentlich etwas, das Sie noch überrascht?
WASTL: Mich überrascht jeden Tag aufs Neue, wie viele Menschen glauben, die Institution Kirche ohne Wenn und Aber schützen zu müssen. Trotz aller vorliegenden Fakten. Zugleich habe ich in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Personen kennengelernt, die in Sachen Missbrauchsaufarbeitung überaus engagiert sind – vom hochrangigen, teils als erzkonservativ geltenden Kleriker oder Laien bis zu Mitarbeitern in Diözesen und Pfarrgemeindemitgliedern. Ihre aufrechte Haltung beeindruckt mich immer wieder.
Zur Person
Ulrich Wastl Der gebürtige Münchner Ulrich Wastl ist seit 1991 Rechtsanwalt. Er ist auf Bank- und Kapitalmarktrecht spezialisiert – und hat mit seiner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) neben einem unabhängigen Gutachten zum Finanzskandal im Bistum Eichstätt unter anderem für die Bistümer München-Freising und Aachen Missbrauchsgutachten mit erstellt. Das WSW-Gutachten für das Erzbistum Köln hält der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki wegen angeblicher "methodischer Mängel" und äußerungsrechtlicher Bedenken bis heute unter Verschluss.