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Interview: Fab Morvan: "Die Wahrheit starrte mir aus dem Spiegel entgegen"

Interview

Fab Morvan: "Die Wahrheit starrte mir aus dem Spiegel entgegen"

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    "Ich habe meinen Frieden gemacht": Fabrice Morvan.
    "Ich habe meinen Frieden gemacht": Fabrice Morvan. Foto: Britta Pedersen, dpa

    Fabrice, hat sich Frank Farian jemals bei Ihnen bedankt?
    FABRICE MORVAN: Nein, das hat er nicht. Frank Farian hat mein Leben vor langer Zeit verlassen und ist zu keinem Zeitpunkt auch nur in irgendeiner Form zurückgekommen. Ich hatte nichts anderes von ihm erwartet. Farian hat von uns profitiert. Sehr sogar. Er hat sich mit Milli Vanilli die Taschen gefüllt. Genauso wie Clive Davis.

    Der damalige Boss Ihrer amerikanischen Plattenfirma und über Jahrzehnte einer der mächtigsten Menschen im Musikgeschäft.
    MORVAN: Er hat mich nie gefragt „Hey, Mann, wie geht es dir eigentlich?“ Oder „Kommst du zurecht, kann ich dir helfen?“ Sollten diese Männer ein schlechtes Gewissen gehabt haben, so haben sie es sehr effektiv vor uns verborgen. Sie dürften wohl eher gedacht haben: „Diese beiden Vögel sind von der Bildfläche verschwunden, und hoffentlich sehen wir sie nie wieder.“ Aber ich bin noch hier. 

    In diesem Herbst ist eine vielbeachtete Dokumentation über eure Geschichte rausgekommen, im Dezember läuft nun der Kinofilm von Simon Verhoeven mit Matthias Schweighöfer in der Hauptrolle an. Wie finden Sie den Film „Girl You Know It’s True“?
    MORVAN: Großartig. Er lässt mich in eine Zeitmaschine einsteigen und mich meine eigene Geschichte auf der Leinwand nacherleben. Unser Weg wird mit Respekt und auf einfühlsame Weise erzählt.

    Woher kommt plötzlich die Faszination für Milli Vanilli, 35 Jahre nach Ihrem Aufstieg und 33 Jahre nach Ihrem Fall?
    MORVAN: Ich denke, dass das Interesse an Milli Vanilli nie wirklich verschwunden war. Über die Jahre bekam ich zahlreiche Anfragen. Doch erst jetzt und auch dank der sehr respektvollen Arbeit der Macher der Doku fühle ich mich wohl dabei, unsere Geschichte, die nun tatsächlich eine einzigartige Geschichte ist, zu erzählen.

    Sie kommen ursprünglich aus Paris, zusammen mit dem in München geborenen Rob Pilatus wurden Sie von Frank Farian in einer Disco als Tänzer entdeckt. Er nahm euch unter Vertrag, doch schnell stellte sich heraus, dass ihr nicht selbst singen solltet. Farian war nur an eurem Look interessiert, die Stimmen kamen aus dem Hintergrund. Habt ihr euch nicht von Anfang an, milde ausgedrückt, veräppelt gefühlt?
    MORVAN: Wir waren jung, wir konnten das Geld sehr gut gebrauchen, und zunächst haben wir nicht so viele Fragen gestellt. Es war ja auch lustig und toll, auf einmal angehimmelt und bewundert zu werden. Die Liebe, die wir bekamen, hat uns verführt. Es war uns auch nicht direkt klar, dass unsere Stimmen keine Rolle spielen sollten. Als wir das schnallten und Änderungen forderten, wurden wir vertröstet und hingehalten. Wir waren zwei kleine Rädchen in einer riesigen Geldmaschine. 

    Fühlen Sie sich nicht mitverantwortlich? Sie hätten auch einfach aussteigen können.
    MORVAN: Wir wollten Musik machen. Wir träumten von einer Karriere im Pop. Es war natürlich eine Riesenchance, und als wir begriffen, was gespielt wird, steckten wir schon sehr tief drin in dieser Geschichte. Natürlich waren wir nicht unschuldig. Aber die Hauptverantwortlichen waren wir sicher nicht.

    Ihr Song „Girl You Know It’s True“ stand 1988 weltweit ganz vorne, unter anderem auf Platz eins in Deutschland und Österreich und auf Platz zwei in den USA. Sie sind von Auftritt zu Auftritt gereist, haben den Ruhm auch genossen. Konnten Sie die Realität einfach ausblenden?
    MORVAN: Die Wahrheit starrte mir entgegen, wenn ich abends im Hotelbadezimmer vor dem Spiegel stand und mir die Zähne putzte. Es gab mich irgendwie zweimal: Den Fab, der ständig Party machte, alles mitnahm und nicht aufhören wollte. Und den Fab, der sich schämte und insgeheim darauf wartete, dass alles auffliegen würde. Alles in allem war ich total verunsichert und verwirrt. 

    Haben Sie Hilfe finden können?
    MORVAN: Ja, aber die falsche. Ich entdeckte Drogen und Alkohol. Wenn ich etwas genommen hatte, fühlte ich mich frei und gut. Sobald die Wirkung nachließ, hämmerte die Wirklichkeit an meinen Schädel. Etwas beschönigend würde ich sagen, es war Selbstmedikation. Ich brauchte die

    Robert Pilatus schaffte den Absprung nicht und verfiel immer mehr der Sucht, bis er 1998 an einer Überdosis starb. Haben Sie versucht, ihm zu helfen?
    MORVAN: Natürlich. Ich habe alles versucht. Ich habe gelernt, dass ein Suchtkranker auch selbst von seiner Sucht loskommen will. Du kannst ein Pferd zur Tränke führen, aber trinken muss es selbst. Wir waren zusammen im Entzug. Dort erfuhr ich, was es bedeutet, Co-abhängig zu sein. Ich musste mich lösen, ich musste auf mich selbst achtgeben. 

    Die Gerüchte, dass der Gesang bei Milli Vanilli nicht von euch kommt, wurden immer lauter. Trotzdem haben Sie 1990 sogar noch einen Grammy-Award bekommen.
    MORVAN: Ich wollte diesen Grammy nicht. Niemand von uns wollte diesen Grammy. Plötzlich standen wir auf der hellsten Bühne der Welt, berühmter als je zuvor. Gleichzeitig war mir klar, dass der Countdown runtertickte und die ganze Nummer schon bald explodieren würde. Ich ahnte, dass wir bald in einen tiefen Abgrund fallen würden. Ich fühlte mich schuldig und beschissen, Rob auch.

    Und dann war es vorbei.
    MORVAN: Ich war erleichtert. Und zugleich stand ich vor dem Nichts. 

    Farian löste die Band auf und mimte den Unschuldigen, an seiner Karriere ist nichts hängen geblieben. Die Mitarbeitenden eurer Plattenfirma Sony Music wandten sich anderen Projekten zu. Den Grammy musstet ihr zurückgeben. Ihr beiden wurdet regelrecht dem Mob zum Fraß vorgesetzt.
    MORVAN: Das Einzige, das uns blieb, war die Wut der Menschen. Anwälte richteten Hotlines ein, unter denen man sich an Sammelklagen gegen uns beteiligen konnte. Manche Menschen verbrannten unsere CDs in der Öffentlichkeit. Es war der Horror. Rob und Fab waren die Sündenböcke. Wir wurden geschlachtet. Frank Farian verschwand auf seiner Yacht in Miami, Clive Davis wurde noch reicher, niemand von den Mitwissern bei Sony, und natürlich wussten es alle, wurden irgendwie belangt. Nur unsere Leben, die hatte man praktisch vernichtet. Mein Schmerz saß sehr, sehr tief. Ich habe viele Jahre gebraucht, um zu heilen. 

    Dass Rob und Fab von Milli Vanilli auf ihren Platten nicht selbst gesungen haben, wurde seinerzeit oft als der „größte Skandal der Musikgeschichte“ bezeichnet, was schon immer eine Übertreibung war. Mit den Jahren jedoch hat sich die öffentliche Wahrnehmung euch gegenüber gedreht. Milli Vanilli sind heute vielleicht nicht komplett rehabilitiert, werden aber zumindest respektiert. Was ist geschehen?
    MORVAN: Ich glaube, die Menschen haben selbst gemerkt, dass wir in der Geschichte zu schlecht weggekommen sind. Dabei waren wir nur das schwächste Glied der Kette. Als die sozialen Medien aufkamen, bekam ich Tausende von Nachrichten. Die Leute fanden mich im Netz und schrieben mir, wie sehr sie Milli Vanilli liebten und immer noch lieben. Jemand meinte sogar: „Dank eurer Musik bin ich auf der Welt“. Seine Eltern hatten sich offenbar ineinander verliebt, als sie unsere Songs hörten. Mir wurde klar, dass wir auch Glück in das Leben der Menschen gebracht haben. 

    Wäre ein Milli-Vanilli-Skandal wie 1990 heute überhaupt noch möglich?
    MORVAN: Nein, das denke ich nicht. Die Welt hat sich verändert. Auf TikTok wird überall Playback gesungen, es gibt heute Gesangsoptimierungssoftware wie das Programm Autotune, die Technik ist insgesamt viel weiter. Wenn eine Band stimmlich nicht so toll harmoniert, dann wird eben nachgeholfen. Auch bei den meisten Popkonzerten steht ja eher die Show im Vordergrund und nicht der perfekte Gesang. Ich will jetzt nicht sagen, dass wir Vorreiter waren, aber insgesamt sind Scheinwelten heute akzeptierter als in den Neunzigern. Oder nimm Instagram. Die Leute benutzen Filter, bis sie so perfekt aussehen, dass man sie fast nicht mehr erkennt.

    Sie haben nach dem Ende von Milli Vanilli noch einige Jahre in Los Angeles gelebt und sind schließlich nach Holland gezogen. Wie sieht Ihr Leben heute aus?
    MORVAN: Ich habe meinen Frieden gemacht. Deshalb kann ich jetzt auch wieder die Maschine bedienen.

    Also bei Sony Music im Büro sitzen und Werbung machen für ein Best-of-Album.
    MORVAN: Richtig. Aber mit dem Unterschied, dass ich heute meine eigene Sicht auf die Dinge darlegen kann. Und ich mache auch wieder Musik. Anfangs habe ich als DJ gearbeitet, heute trete ich auch wieder auf – und singe die Hits von Milli Vanilli sowie eigene Lieder. 

    Wie sieht es im Privaten aus?
    MORVAN: Ich habe in Holland meine Partnerin Tessa kennengelernt. Wir leben in Amsterdam und haben vier Kinder. Tessa ist Mental- und Gesundheitstrainerin, sie sorgt dafür, dass ich gut und gesund lebe. Ich schwöre zum Beispiel auf Intervallfasten und kalte Duschen. Und ich fokussiere mich auf die positiven Aspekte des Lebens und nicht die negativen. Ich fühle mich fit und wunderbar. Ich habe es geschafft. Es geht mir gut. Alles, was ich spüre, und alles, was ich weitergeben will, ist Liebe.

    Zur Person

    Fabrice "Fab" Morvan, geboren 1966 in Paris, war Teil des Popduos Milli Vanilli. Zwei Jahre lang bis 1988 stand er zusammen mit dem Deutschen Robert „Rob“ Pilatus ganz oben, die Song „Girl You Know It’s True“ wurde zum Welthit. Dann kam raus: Die haben gar nicht selbst gesungen. Ihr Entdecker und Produzent Frank Farian setzte, wie schon bei seinem früheren Projekt Boney M., lieber auf Stimmen aus dem Off. Robert Pilatus hat das nicht überlebt. Fabrice Morvan schon. Mit 57 tritt der Franzose nun – flankiert von einer Dokumentation, einem Best-of-Album und demnächst auch dem Kinofilm „Girl You Know It’s True – an, um die Geschichte aus seiner Sicht zu erzählen. Und so einiges geradezurücken. „Girl You Know It’s True“, ein Film von Simon Verhoeven mit Matthias Schweighöfer in der Rolle des Frank Farian, läuft ab 21. Dezember. 

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