Herr Lütz, wie lange suchen Sie schon nach dem Sinn des Lebens?
MANFRED LÜTZ: Wahrscheinlich seit meiner Geburt. Als Kind hat man aber noch ganz spontan das Gefühl, in einer selbstverständlich sinnvollen Welt zu leben. Die Suche nach dem Sinn kommt später.
Würden Sie sagen, Sie haben ihn gefunden?
LÜTZ: Ich finde ihn jeden Tag – jeden Tag auch ein bisschen neu.
Es gibt ja einen großen Markt für Sinnsuchende …
LÜTZ: ... aber kein Guru kann einem den Sinn des Lebens zeigen. Oder den Weg zum großen Glück. All diese Glücksratgeber machen unglücklich, weil da ein Autor beschreibt, wie er persönlich glücklich wurde – und den Leser dann traurig zurücklässt, weil der Leser nun mal leider nicht der Autor ist.
Bei den Kirchen wird offensichtlich immer weniger nach Antworten gesucht.
LÜTZ: Da haben Sie recht. Die Kirchen zerlegen sich zurzeit selbst. Aber gerade angesichts der vielfältigen Krisen suchen viele Menschen nach Sinn. Ursprünglich sind die Kirchen ja keine Moralanstalten, sondern Sinninstitutionen, die den Glauben an Gott und das ewige Leben wachhalten. Die Ersetzung der Religion durch Moral ist jedenfalls ein Irrweg.
Hat sich Ihr Leben eigentlich dadurch verändert, dass Sie einen Lebenssinn gefunden haben?
LÜTZ: Das war ja kein einmaliges Ereignis. Es gibt Momente, in denen ich den Eindruck habe: Der Sinn meines Lebens ist, das zu tun, was ich gerade tue – und was so vielleicht nur ich tun kann. Zum Beispiel, einem bestimmten Menschen in Not zu helfen. Das ist einfach in sich sinnvoll – und macht zudem glücklich.
Die Suche nach dem Lebenssinn, der Gedanke, dass es keinen gibt – das kann niederschmetternd sein.
LÜTZ: Das stimmt, schwer depressive Menschen können das so erleben. Aber auch bei gesunden Menschen kann der Eindruck, dass das ganze Leben sinnlos ist, lähmend wirken. Den Sinn des Lebens findet man nicht theoretisch und auch nicht in der Vereinzelung.
Das wäre auch eine biblische Antwort. Im Lukas-Evangelium heißt es: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben" – "und deinen Nächsten wie dich selbst".
LÜTZ: Als ich mit dem weltbekannten Psychoanalytiker Otto Kernberg ein Dialogbuch gemacht habe, sagte er zu meiner Überraschung plötzlich: Er könne sich das Gehirn des Menschen nicht vorstellen ohne jemanden, der es geschaffen habe. Ich entgegnete: Ich dachte, Sie sind Atheist! Seine Antwort: Das Gehirn sei wunderbarerweise auf Beziehungen hin orientiert. Ohne Beziehungen der Menschen untereinander könne es gar nicht richtig funktionieren. Für Kernberg ist das eine Art Gottesbeweis.
Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens findet sich also im Miteinander?
LÜTZ: Ja, denn der Mensch ist ein soziales Wesen. Und bei der Suche nach dem Sinn des Lebens kann einem auch die Kunst helfen.
Das ist die These Ihres neuen Buches "Der Sinn des Lebens": Man könne ihn sehen.
LÜTZ: Ja wirklich, man kann den Sinn des Lebens sehen. Im Mittelalter haben die Menschen den Sinn des Lebens nur sehen können, in den Bildern der Kirchen, sie konnten zumeist gar nicht lesen und schreiben. Es ist meine feste Überzeugung, dass in den Bildern meines Buches jeder Leser und jede Leserin den Sinn seines und ihres Lebens sehen kann, denn große Künstler haben ihre Werke nicht für Experten geschaffen, sondern für alle Menschen. Das Buch soll anregen, innezuhalten und vielleicht dann sogar sein Leben zu ändern.
Ihr Buch besteht im Grunde aus einem kunsthistorischen Spaziergang durch Rom. Sie vertiefen sich in weltberühmte Kunst- und Bauwerke.
LÜTZ: Aber es ist kein Rom-Buch, sondern ein Buch über den Sinn des Lebens! Die großartigen Kunstwerke Roms sollen nur Anregungen sein. Nehmen Sie den "Brutus", diesen beeindruckenden Bronzekopf im Museum auf dem Kapitol ...
Eine antike Brutus-Büste beantwortet mir die Frage nach dem Lebenssinn?
LÜTZ: Für die alten Römer war Sinn des Lebens vor allem, dem Staat zu dienen.
Dem Staat?
LÜTZ: Die Römer haben den Staat, wie wir ihn kennen, erfunden. Wenn man sich in diesen Ernst, dieses Pflichtgefühl und zugleich diese lebenskluge Würde vertieft, die der kapitolinische Brutus ausstrahlt, kann man verstehen, wie diese kleine Stadt Mittelitaliens zur Hauptstadt fast der gesamten damals bekannten Welt werden konnte. Ich habe mich bei seinem Anblick nicht selten gefragt: Sind wir wohl heute noch bereit, so für unseren Staat und unsere Freiheit zu kämpfen? Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind es – wir auch?
Man könnte Ihnen vorwerfen: Es ist ein überaus privilegierter Zugang, den Sinn des Lebens in Rom und in der Kunst der Ewigen Stadt zu suchen. Viele andere können das nicht.
LÜTZ: Genau deshalb war es mir so wichtig, dass die Bilder in meinem Buch groß und von hoher Qualität sind, damit sie auch demjenigen, der nicht nach Rom fahren kann, ein wirkliches Kunsterlebnis ermöglichen. Wie gesagt, es geht in dem Buch nicht um Rom, sondern um den Sinn des Lebens, aber nebenher bekommt man noch die ganze Geschichte und Kunstgeschichte Roms sozusagen mitgeliefert.
Wenn ich Sie richtig verstehe, dann lässt sich der Sinn des Lebens keinesfalls in einen klugen Satz pressen. Fällt Ihnen dennoch ein kluger Satz einer bekannten Persönlichkeit dazu ein?
LÜTZ: Der Philosoph Odo Marquard sagte: "Der Sinn – und dieser Satz steht fest – ist stets der Unsinn, den man lässt." Es geht nicht immer gleich um den großen Sinn, vielleicht kann man den Sinn viel besser in kurzen Begegnungen mit eindrucksvollen Menschen oder mit bezaubernden kleinen Kunstwerken erleben.
Zur Person
Manfred Lütz, 1954 in Bonn geboren, ist Psychiater, Psychotherapeut, katholischer Theologe – und Bestsellerautor ("Irre"). Sein neues Buch "Der Sinn des Lebens" (Kösel-Verlag, 368 Seiten mit 155 Farbfotos, 30 Euro) erscheint am Mittwoch, 13. März.