Frau Mutter, es gibt Menschen, die behaupten, bereits nach wenigen Takten zu erkennen, ob sie gerade Anne-Sophie Mutter an der Violine hören oder einen anderen Künstler von Weltrang.
ANNE-SOPHIE MUTTER: Ich glaube, es ist wie bei großen Sängern und Sängerinnen auch, Domingo, Carreras, Pavarotti, Callas. Das Timbre der Stimme ist vergleichbar mit dem eines Instruments. Es macht im besten Fall unverwechselbar. Insofern ist es ein großes Kompliment, wenn jemand so etwas sagt.
Was ist das Spezielle am Timbre Ihrer musikalischen Stimme? Sind es die häufig gelobten besonders zarten Klänge? Ist es das leicht forcierte Tempo, das Sie zuweilen anschlagen, zum Beispiel bei Mendelssohn Bartholdy?
MUTTER: Es kommt ganz aufs Werk an. Es geht darum, einen Bezug herzustellen zum Werk, sich jedes Mal neu undogmatisch und frisch inspirieren zu lassen. In Mendelssohns Gondoliere-Liedern beispielsweise geht es um die Flucht mit dem Liebsten. Davon ist der zweite Satz des Violinkonzerts inspiriert. Das versuche ich zu vermitteln.
Dann lassen Sie uns doch ein wenig über Inspiration und Werktreue sprechen. Es gibt da von Ihnen ein paar scheinbar widersprüchliche Aussagen. Ich zitiere: „Es gibt für den Interpreten, wenn ihm Werktreue ein Anliegen ist, keinen Spielraum für das Ego.“ Oder: „Etwas anders zu spielen, nur um anders zu sein, ist eine Art von Betrug.“ Andererseits haben Sie sich sehr gefreut, als ein Kollege Ihnen sagte: „Du spielst dasselbe nie gleich.“ Wie passt das zusammen?
MUTTER: Das alles erklärt sich über das Wort Ego. Es geht nicht darum, sich in den Vordergrund zu stellen, so habe ich das gemeint. Aber es geht sehr wohl darum, Stellung zu beziehen, über die subjektive Betrachtungsweise.
Wie sähe das aus, dieses „sich in den Vordergrund stellen“?
MUTTER: Indem man die eigenen Fähigkeiten zur Schau stellt. Ein Werk und sein Thema der eigenen technischen Brillanz unterordnet. Ich spiele zwar wahnsinnig gerne schnell und gut, und manchmal geht es vielleicht mit mir durch. Aber es entspricht niemals meiner Philosophie, mir ein Werk unterzuordnen. Es geht nur darum, mein Verständnis dieses Werks mutig zu teilen.
Wie sieht so ein Verständnis konkret aus?
MUTTER: Ein Beispiel: Dass es vor dem 18. Jahrhundert noch kein italienisches Tremolo gab, bedeutet nicht, dass Mozart 100 Jahre später, hätte er dann gelebt, es nicht zu schätzen gewusst und eingesetzt hätte. Also erlaube ich mir, es einzusetzen. Wir führen Shakespeare ja auch nicht mehr mit Männern in Frauenkleidern auf.
Zu Ihrem Verständnis von Werktreue gehört also durchaus, ein Werk in die Gegenwart zu transferieren.
MUTTER: Absolut.
Im Ihnen gewidmeten Dokumentarfilm „Vivace“, der am 28. März in die Kinos kommt, ist häufig von „Dialog“ die Rede. Zunächst ist da der Dialog zwischen Ihnen und einem Orchester. Wie kann man sich diesen Dialog vorstellen?
MUTTER: Es gibt eine enge Vernetzung zwischen mir und den Musikern um mich herum. Deren Spiel beeinflusst mein Weiterspielen beinahe Takt um Takt, und dieses Zusammenspiel entsteht bei jeder Aufführung neu. Die Solo-Stimme ist Teil eines sehr großen Ganzen. Die Emotionen vieler Musiker spielen eine Rolle, die Tagesstimmung, auch die Akustik in einem Saal.
Und Ihr Dialog mit dem Werk, sagen wir Beethovens Violinkonzert, das Sie seit 40 Jahren immer und immer wieder gespielt haben?
MUTTER: Da gilt es, nicht in Gewohnheit zu erstarren und das Wiederkehrende mit neuem Blick zu betrachten. Also zu fragen: Was ist machbar, was erscheint für dieses Werk in diesem Moment sinnvoll? Als Teenager ging ich davon aus, dass die Antwort durch die intensive Beschäftigung mit einem Werk zunehmend leichter fällt.
Und dem ist nicht so?
MUTTER: Leider nein. Ich spiele heute zwar mit viel mehr Erfahrung, aber keineswegs leichtherziger. Denn Beethovens 45 Minuten gleichen einer Vertonung Thomas Mann'scher Satz- und Textkonstruktionen. Lange Gedankenbögen, die erst irgendwann, nach zehn Minuten, auf den Punkt kommen – so etwas kann man erst mit der Zeit oder aus der Vogelperspektive eines Dirigenten erkennen.
Auch dieser Vergleich zeigt, wie sehr sich Ihr persönlicher Stil von der Epoche der Entstehung eines Werks zu lösen scheint, denn Beethoven (1770 – 1827) war Thomas Mann (1875 – 1955) gut 100 Jahre voraus. Kann es sein, dass Sie das Konzert also irgendwann noch einmal ganz anders lesen, verstehen, interpretieren werden?
MUTTER: Es braucht immer wieder zeitgemäße, persönliche Sichtweisen auf Werke, von denen wir glauben, sie seit Jahrhunderten zu kennen. Es ist ein sehr fragiler Tanz rund um den Begriff „Werktreue“. Ich ringe mit dem Begriff, seitdem ich denken kann. Soll man dogmatisch einer Formel folgen? Oder ist der Notentext nur ein Schatten dessen, was der Komponist zu Papier bringen konnte?
Woraus folgt, dass es die perfekte, ultimative Aufführung gar nicht geben kann.
MUTTER: Perfektion ist eine Illusion. Selbst keine Fehler machen zu wollen, wäre absurd. In der Freude, in der Leidenschaft liegt weitaus mehr Qualität. Da muss ich kurz auf den Tennisspieler Roger Federer zu sprechen kommen, dem ich im Film „Vivace“ begegne: Der hat oft unmögliche Schläge gemacht, Schläge, die eigentlich gar nicht gehen. Unvorsichtige, riskante Schläge. Aber sie waren künstlerisch, spielerisch und leidenschaftlich. Was ist Ihnen lieber: fehlerfrei oder leidenschaftlich?
Sie fragen das in der Gewissheit, meine Antwort bereits zu kennen.
MUTTER: Noch so eine Frage: Was ist eigentlich eine falsche Note? Ich finde, Wettbewerbe machen Musiker auch kaputt, mutlos. Wettbewerbe erzeugen graue Musiker, ähnlich den grauen Herren aus "Momo". Wollen wir die auf der Bühne hören? Nein! Dafür ist die Kunst nicht gemacht.
Das klingt auch wie ein Plädoyer für und an junge Nachwuchsmusiker.
MUTTER: Es geht darum, sich von Nachbeterei zu befreien. Es gibt eine Vielzahl interpretatorischer Zugänge, die Musik vielfältig erlebbar machen. Nicht nur bei Nachwuchsmusikern, sondern auch an Schulen. Da geht es im Musikunterricht plötzlich um Theorie, zum Beispiel die Analyse von „Sacre du Printemps“. Wozu das?
Und stattdessen?
MUTTER: Wäre es besser, die Musik selbst wirken zu lassen. Über die Gefühle muss man sprechen! Musik lehrt uns, einander besser zu verstehen, den Menschen stärker als spirituelles Wesen zu sehen. Sie lehrt uns, wie die Kunst im Allgemeinen, was der Mensch in der Lage ist, jenseits monetär notwendiger Dinge zu leisten. Und sie stärkt uns als Gemeinschaft.
Beim Thema Gefühle kommen mir Ihre beiden Stradivaris in den Sinn, auf der einen, einer Lord Dunn-Raven aus dem Jahr 1710, spielen Sie seit unübertroffenen 40 Jahren. Sie haben einmal gesagt, Sie hätten eine „Liebesbeziehung“ zu diesem Instrument.
MUTTER: Da sind wir wieder beim Thema Dialog. Es kommt, wie in jeder Partnerschaft darauf an, die richtigen Fragen zu stellen. Etwa zu hören und zu fühlen, wie das Instrument auf die jeweilige Umgebung reagiert. Sich gemeinsam den Umständen anzupassen. Es gibt zuweilen Konzertübertragungen, bei denen Musiker entsetzt auf ihre Instrumente starren, nach dem Motto: Wie konntest du nur diesen Ton hervorbringen? Ich habe gelernt, die Fehler erst einmal bei mir zu suchen.
Zur Umgebung zählen nicht nur die Orchester, sondern auch die Konzertsäle. Sie haben mehrmals vehement einen neuen Konzertsaal in München gefordert. Ist das auch ein Wunsch Ihrer Partnerin, der Violine?
MUTTER: Natürlich wünsche ich mir und den in München angesiedelten Orchestern von Weltrang einen geeigneten Saal. Eine Konzertsaal-Stradivari für meine Stradivari sozusagen.
Wo fühlt sich Ihre Lord Dunn-Raven denn besonders wohl?
MUTTER: In der Geffen-Hall in New York zum Beispiel oder in der Elphi. In Hamburg sind wir Musiker alle heiterer, wir sind alle voller Vorfreude. Du fühlst dich sauwohl im ganzen Gebäude, im ganzen Viertel. Das ist besser als vier Espressi vor der Aufführung.
Und entsprechend fröhlicher wird dann auch der Beethoven?
MUTTER: Absolut.
Bleiben zwei Fragen zu Sigrid Faltins Film „Vivace“, in dem Sie neben Roger Federer und dem Magier Steve Cohen wichtigen Weggefährten aus der Musik begegnen, in dem man Sie samt Dackel beim Wandern in den Voralpen erlebt und immer wieder bei Konzerten aus vier Jahrzehnten. Am Ende sagen Sie in die Kamera: „Der Arme, der das schneiden muss!“ Gefällt Ihnen der Film überhaupt?
MUTTER: Ich finde, der Film ist witzig und unterhaltsam.
Wenn Sie ihn selbst gedreht hätten, wer oder was würde darin auf jeden Fall noch vorkommen?
MUTTER: Mein Taufpfarrer Paul Gräb. Der hat schon in den 60er Jahren Menschen mit besonderen Bedürfnissen auf besondere, respektvolle Weise gefördert. Über den müsste noch posthum ein Film gedreht werden. Ein Film über mich ist ja eigentlich total überflüssig.
Zur Person
Anne-Sophie Mutter, 1963 in Rheinfelden geboren, ist im Alter von 13 Jahren von Herbert von Karajan entdeckt worden. Seitdem konzertiert sie in den großen Konzertsälen der Welt. Die Filmemacherin Sigrid Faltin zeigt in ihrer Dokumentation "Anne-Sophie Mutter – Vivace" die Musikerin auch ganz privat.