Hannah Lindner erinnert sich noch genau an den Fall mit der Ausländerbehörde. Einmal, so erzählt es die Projektkoordinatorin bei der Caritas Bonn, seien Menschen zu ihr gekommen, die keinen Termin mit dem Amt vereinbaren konnten – weil das nur digital ging. „Man brauchte dafür eine E-Mail-Adresse“, sagt Lindner. „Aber nicht jeder hat eine.“ Analoge Möglichkeiten der Kontaktaufnahme fehlten.
Lindner ist es ein Anliegen, diese Menschen zu unterstützen. Für Personen ohne Digitalkenntnisse bieten die Caritas Bonn und der katholische Wohlfahrtsverband SKM Köln deshalb an drei Standorten das Modellprojekt Telefonzelle 4.0 an. Der Name ist ein wenig irreführend, es geht nicht um die gelben oder magentagrauen Kästen auf den Straßen, die ältere Generationen noch von früher kennen. Im Rahmen des Projekts bekommen Menschen das digitale Leben erklärt: Ehrenamtliche helfen ihnen dabei, online Behördengänge zu erledigen, Anträge bei Ämtern zu stellen oder sich bei der Schuldnerberatung zu melden. Jörn Unterburger vom SKM Köln nennt die Telefonzelle 4.0 eine „digitale Fähigkeiten- und Fertigkeitenwerkstatt“.
Schnell einen Termin online beim Arzt buchen, ein Bahnticket über die App kaufen, im Supermarkt per Smartphone bezahlen: Für die meisten Menschen in Deutschland ist das inzwischen selbstverständlich – aber längst nicht für alle. Das Statistische Bundesamt veröffentlichte kürzlich Zahlen, wonach gut fünf Prozent der Menschen zwischen 16 und 74 Jahren – 3,1 Millionen Menschen – überhaupt nicht online sind. Einer Umfrage des IT-Branchenverbands Bitkom zufolge nutzen 22 Prozent der Befragten kein Smartphone. Bei den über 65-Jährigen ist es mehr als ein Drittel, bei den 16- bis 29-Jährigen sind es fünf Prozent.
Diese Menschen erleben einen zunehmenden Digitalzwang: Unternehmen und Behörden koppeln bislang auch analog verfügbare Produkte und Dienstleistungen vermehrt an einen Internetzugang oder an ein Smartphone mit bestimmten Apps. Für diejenigen, die kein Smartphone haben, keinen Zugang zum Internet oder die online nicht so versiert sind, stellen digitale Angebote riesige Hürden dar – vor allem, wenn es keine Alternativen gibt.
„Die Digitalisierung hilft einem bestimmten Prozentsatz von Menschen, die über die entsprechenden Fertigkeiten und finanziellen Mittel verfügen“, sagt Unterburger. Doch sie schließe auch einen Teil der Gesellschaft aus. Schon jetzt gebe es Ämter, die analoge Wege der Antragstellung erschweren – oder deren Möglichkeit verschweigen. „Wenn die Digitalisierung sich in diese Richtung weiterentwickelt, sehen wir die Gefahr, dass Menschen in existenzielle Nöte kommen.“ Etwa, wenn sie am Beantragen von Arbeitslosengeld oder anderen sozialen Leistungen scheitern.
Braucht es also ein Recht auf analoges Leben, eine Möglichkeit, auch ohne Smartphone oder Internet am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, alles auch mit Telefon, Zettel, Stift und vielleicht noch EC-Karte erledigen zu können?
Nadia Kutscher, Professorin für Soziale Arbeit und Erziehungshilfe an der Universität zu Köln, hält das „wirklich für notwendig“. Sie forscht seit Jahren zu digitaler Ungleichheit und sagt: „Viele digitale Angebote, die mit der entsprechenden Bildungssozialisation selbstverständlich erscheinen, sind sehr voraussetzungsvoll und schließen Benachteiligte aus.“ Kutschers Lehrstuhl begleitet die Köln-Bonner Telefonzelle 4.0 wissenschaftlich. Eines der Zwischenergebnisse: Manchen Menschen fehlen grundlegendste Digitalkenntnisse. Sie können nicht scannen. Sie wissen nicht, was ein PDF ist – geschweige denn, wie man eines erstellt.
Kutscher betont, dass die offiziellen Statistiken zur Verbreitung von Internet und Smartphones ein verzerrtes Bild erzeugen. „Dass jemand ein Smartphone besitzt, bedeutet nicht, dass er auch über alle notwendigen Fähigkeiten verfügt, um sich in der digitalen Welt zurechtzufinden.“ 41 Prozent der Befragten geben in einer aktuellen Bitkom-Umfrage an, dass sie sich von der zunehmenden Digitalisierung überfordert fühlten – auch unter den 30- bis 49-Jährigen ist der Anteil mit gut einem Drittel hoch. Mögliche Gründe, warum jemand digitale Angebote nicht verwendet, findet man in einer Umfrage von 2023: Die Nutzung sei zu kompliziert, das technische Wissen fehle, man habe Angst, etwas falsch zu machen, oder wisse nicht, wohin man sich bei Fragen oder Problemen wenden könne. Viele haben auch schlicht Datenschutzbedenken – oft zurecht, findet Kutscher. Aus ihrer Sicht muss es deshalb auch künftig analoge Alternativen und Brückenangebote geben. Der Verein Digitalcourage hat im Mai anlässlich des 75. Geburtstages des Grundgesetzes eine entsprechende Petition gestartet, gegen „Digitalzwang“ und für das Grundrecht auf analoge Alternativen.
Wer in der Familie nicht über WhatsApp kommuniziert, kriegt wenig mit
Dagmar Hirche ist eine von denen, die Brücken bauen möchte. Mit ihrem Verein „Wege aus der Einsamkeit“ will sie Menschen über 65 – die größte Gruppe der Offliner – zu ihren ersten Schritten in die digitale Welt ermutigen. Ältere Menschen würden immer stärker isoliert, wenn sie nicht digital vernetzt seien, heißt es auf der Internetseite des Projekts. Ihnen gingen „immer mehr Informationen, Hilfestellungen und Wissenswertes verloren“. Auch viele Familien kommunizieren heute über WhatsApp – wer nicht weiß, was das ist oder wie das funktioniert, kriegt wenig mit. Seit elf Jahren bietet der Verein persönliche Gesprächsrunden dazu an, wie man in „dieses Internet“ kommt, was WLAN ist, wozu ein Smartphone so alles taugt. Seit der Corona-Pandemie gibt es auch Videokonferenzen – für diejenigen freilich, die schon wissen, wie das funktioniert. Mehr als 32.000 Menschen haben, persönlich oder via Video, bereits teilgenommen.
Hirche, mit 67 Jahren inzwischen selbst im Zielgruppenalter, gibt ihre eigene Digitalisierungsbegeisterung mit einer einfachen Methode weiter: Statt „Schulungen“ veranstaltet sie „Gesprächsrunden“. Klingt nicht so einschüchternd. Und wenn das Wort „Provider“ fällt, übersetzt sie es direkt mit „Telekommunikationsanbieter“. Klingt zwar etwas ungelenk – vermutlich auch deshalb wurde „Provider“ so gebräuchlich –, dafür verstehen es in den Gesprächsrunden alle. Denn, betont Hirche: „Ganz viele, die nicht digital unterwegs sind, sagen: Wir verstehen schon die Worte nicht, die verwendet werden – und dann müssen wir auch noch lernen, wie das funktioniert!“
Hirche glaubt, es gebe eine weitverbreitete Scham, die eigene Überforderung mit der digitalen Komplexität zuzugeben. Eine Idee, wie man diesem Problem begegnen könnte, hat sie auch: „Warum nicht ein öffentlich-rechtliches Fernsehprogramm für digitale Bildung, das 24 Stunden am Tag erklärt, wie all diese Dinge funktionieren?“ Und Hirche findet, dass man analoge Alternativen bereitstellen müsse, solange nicht alle Menschen tatsächlich an der Digitalisierung teilhaben – es gebe schließlich auch Menschen, die aufgrund von Krankheiten, Armut oder körperlichen Beeinträchtigungen davon ausgeschlossen sind.
Zu den Firmen, die Hirche mit ihrer Digitalstrategie besonders unangenehm aufgefallen sind, zählt die Deutsche Bahn: zu rücksichtslos, zu undurchdacht gehe der Verkehrskonzern hier vor. Mit dieser Einschätzung steht sie nicht allein. Immer mehr Bahnangebote – von Bahncards über das Vielfahrerprogramm bis hin zu ermäßigten Sparpreistickets – werden von der DB an ein Online-Kundenkonto und eine E-Mail-Adresse gekoppelt. Oder sogar an die Nutzung der Smartphone-App DB Navigator, der die Stiftung Warentest attestierte, es mit dem Datenschutz nicht so genau zu nehmen.
Verbraucherschützer fordern eine „Mobilität ohne Digitalzwang“
„Die Bahn will ihre Kunden in diese digitalen Systeme reinzwingen“, sagt Detlef Neuß, Bundesvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn. Das sei betriebswirtschaftlich verständlich, schließlich spare sie so Vertriebskosten. „Aber man kann doch Menschen, wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – nicht an diesen Systemen teilnehmen können oder wollen, nicht vom Bahnbetrieb ausschließen.“
Der Fahrgastverband Pro Bahn hat deshalb kürzlich eine „Resolution gegen Smartphonezwang im öffentlichen Verkehr“ verabschiedet. Auch der Bundesverband der Verbraucherzentralen beanstandet die ruppige Digitalstrategie der Bahn und fordert eine „Mobilität ohne Digitalzwang“. Er verweist auf eine repräsentative Onlinebefragung (!), wonach 64 Prozent der Deutschen es kritisch sähen, wenn Bahnfahrkarten ausschließlich über das Internet und in Apps erhältlich wären. Eine Bahnsprecherin verwies auf Anfrage darauf, dass inzwischen 90 Prozent aller Fernverkehr-Tickets digital verkauft würden. Deutschland sei viel digitaler, als man denke. „Wer zunächst noch gar nicht auf eine analoge Alternative verzichten möchte, der kann auch in Zukunft statt der App einen Papier-Ausdruck seiner Bahncard im Zug vorzeigen.“ Dafür seien lediglich ein Kundenkonto und eine E-Mail-Adresse nötig. Dazu, dass Teile des DB-Angebots ohne Smartphone-App nicht nutzbar sind, wollte sie sich nicht äußern.
Es gibt indes nicht nur Menschen, die sich kein Smartphone leisten oder es kaum bedienen können. Manche verzichten ganz bewusst darauf. Natalie Hilmers ist eine von ihnen und hat für ihre Masterarbeit „Leben ohne Smartphone“ an der Universität Jena mit Gleichgesinnten gesprochen. Die Gründe für den Smartphoneverzicht seien unterschiedlich, sagt Hilmers: „Datenschutzbedenken zählen natürlich dazu. Der Wunsch, der Informationsflut Einhalt zu gebieten. Das Bedürfnis, mehr im Hier und Jetzt zu sein, sich nicht ständig ablenken zu lassen. Oder auch der Versuch, dem Suchtpotenzial vieler Smartphone-Apps zu widerstehen.“
Allerdings würden die Hürden für diese Menschen in einer „tiefgreifend mediatisierten Welt“ immer höher, betont Hilmers. Und bisweilen unüberwindbar. Das musste sie auch schon selbst erfahren. So blieb ihr das stark vergünstigte Deutschlandticket für Studierende verwehrt. Das gab es an der Uni Jena nur per Smartphone-App.
Spätestens wenn es zu größeren Systemausfällen kommt wird man ein fehlende analoge Möglichkeit bereuen. Abhängigkeiten von einer einzigen Struktur können sich als fatal erweisen.
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