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Großbritannien: Der verlorene Sohn: Wie Prinz Harry um Deutungshoheit kämpft

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Der verlorene Sohn: Wie Prinz Harry um Deutungshoheit kämpft

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    Am Sonntagabend konnten die Zuschauer in den USA und Großbritannien zwei teils fast wortgleiche Interviews mit Prinz Harry sehen. Darin sprach der Königssohn über seine Familie, den Zwist mit seinem Bruder und die Trauer um seine Mutter.
    Am Sonntagabend konnten die Zuschauer in den USA und Großbritannien zwei teils fast wortgleiche Interviews mit Prinz Harry sehen. Darin sprach der Königssohn über seine Familie, den Zwist mit seinem Bruder und die Trauer um seine Mutter. Foto: Jane Barlow, Pa Wire, dpa

    Irgendwann fallen jene Worte, die man ganz unterschiedlich bewerten kann: als zynisch, realitätsfern oder einfach nur tragisch, je nach Sichtweise. „Ich sitze hier und bitte um eine Familie“, sagt Prinz Harry. „Nicht um eine Institution, um eine Familie.“ Er blickt auf den Journalisten Tom Bradby, die beiden sind Freunde. Durch die großen Fenster scheint die kalifornische Sonne, Harry wirkt den Tränen nahe. „Ich will meinen Vater zurück. Ich will meinen Bruder zurück. Momentan erkenne ich sie nicht wieder.“ Harry, der verlorene Sohn, der verstoßene Bruder, das ist die Botschaft dieses Interviews mit dem britischen Sender ITV, das am Sonntagabend in Großbritannien ausgestrahlt wurde. Ein Mann, der sein Innerstes nach außen kehren muss, weil ihm die eigene Familie keine andere Wahl gelassen hat – so beschreibt sich Harry selbst.

    Es ist der vorletzte Akt, vorerst, in diesem royalen Drama, das für die Öffentlichkeit mit dem Abgang von Prinz Harry und seiner Frau Meghan vor knapp drei Jahren begann, eigentlich aber noch viel früher. An diesem Dienstag steht nun das vorläufige Finale in Harrys Rachefeldzug gegen die eigene Familie an: Der Verlag Random House veröffentlicht zeitgleich in 16 Sprachen die Biografie des Prinzen, „Spare“, zu Deutsch: Ersatz, im Englischen ein Reim auf den Begriff „heir“, Thronfolger, jene Position, die für Harry immer so nah und doch nie erreichbar war. Einige Buchhändler in Großbritannien haben eigens ihre Öffnungszeiten in der Nacht auf Dienstag verlängert, um auf einen möglichen Ansturm vorbereitet zu sein. Punkt Mitternacht soll das Buch in den Schaufenstern und Regalen stehen.

    Einige Details aus Prinz Harrys Biografie sickerten schon durch

    Weil es in Spanien durch einen Fehler schon auf einigen Verkaufstischen lag, sind die wichtigsten Details bereits bekannt, vor allem die deftigen: die Entjungferung Harrys auf einem Feld hinter einem Pub, ein tätlicher Angriff von Bruder William, Kokainkonsum und das berüchtigte Nazi-Kostüm, zu dem ihm William und Kate geraten haben sollen.

    Im Englischen gibt es einen Begriff für diese Art von Büchern: tell-all-memoir, Biografien, in denen alles auf den Tisch gelegt wird. „Spare“ erzählt Harrys Geschichte in seinen Worten, als Gegenentwurf, so sagt er das, zu den über Jahre und Jahrzehnte in der britischen Presse lancierten Geschichten über ihn. Vielleicht liegt es auch daran, dass Harry immer mehr wie ein Getriebener wirkt. Wie ein Mann, der alle Brücken hinter sich abreißt und die Trümmer noch dazu in Brand setzt. Die Biografie ist aber auch ein wichtiger Baustein im Machtkampf zwischen dem abtrünnigen Königssohn und dem Königshaus. Letztlich geht es um Deutungshoheit. Um die Frage: Wer ist gut und wer ist böse?

    In diesem Kampf teilt Harry gegen alle Mitglieder seiner Familie aus. Gegen seinen Vater, König Charles, der Harry nach dem Unfalltod seiner Mutter Diana nicht einmal in den Arm genommen habe, und der den Sohn gern damit aufgezogen haben soll, dass er nicht wisse, ob er sein leiblicher Vater sei. Gegen den Bruder: William soll sich bei Harry über Meghan beschwert und den Bruder vor Wut zu Boden geworfen haben. Vor seiner Hochzeit mit Meghan soll der Ältere außerdem versucht haben, den Jüngeren zu zwingen, seinen Bart abzurasieren – weil es das Protokoll so vorgebe. Die Queen habe ihrem Enkel letztlich erlaubt, den Bart zu tragen, erzählte Harry in einem der seltsameren Momente des Interviews. Der Prinz nennt William seinen „geliebten Bruder und Erzfeind“. Zwischen ihnen habe es stets eine Art Wettkampf gegeben.

    Harry schießt in "Spare" am deutlichsten gegen Camilla

    Am deutlichsten schießt Harry aber gegen Camilla, die zweite Frau seines Vaters: Um die britische Presse von sich selbst abzulenken, habe sie negative Gerüchte und Geschichten über ihn gestreut. Sie habe ihn „auf ihrem persönlichen PR-Altar geopfert“ und gehe über Leichen. Harrys Urteil über Camilla: „Sie ist gefährlich.“ Er habe seinen Vater einst angefleht, sie nicht zu heiraten.

    Der Prinz offenbart einen Einblick in eine Familie, für die das Wort dysfunktional kaum auszureichen scheint: Ein Mangel an Liebe und Zuneigung, Machtspiele zwischen zwei Brüdern, kleine Gemeinheiten und große Vertrauensbrüche – man muss nicht „The Crown“ gesehen haben, um zu glauben, dass man da nicht ohne Blessuren herauskommt.  

    Im weitverzweigten Stammbaum der Familie Windsor finden sich immer wieder Menschen, die am Leben in der „Firma“, wie das Königshaus intern genannt wird, fast zerbrochen wären: König Edward VIII. dankte ab, weil die Krone ihm die Hochzeit mit der geschiedenen Amerikanerin Wallis Simpson nicht erlauben wollte. Prinzessin Margaret, die Schwester der Queen, erstickte ihre Traurigkeit mit Alkohol, Zigaretten und Affären. Und Prinzessin Diana, die Mutter von Harry und William, ist eine der großen tragischen Gestalten der britischen Geschichte: die unglückliche Ehe mit Charles, die lebenslange Verfolgung durch die Paparazzi, der viel zu frühe Tod.

    Wie Harry jetzt, hat auch Diana damals mit voller Wucht gegen das Königshaus ausgeholt. Anfang der 1990er Jahre hatte sie Tonbänder aufgenommen und aus dem Palast schmuggeln lassen. Das Material auf den Kassetten verarbeitete der Journalist Andrew Morton zu dem Buch „Diana – ihre wahre Geschichte“. 1995 gab sie der BBC das berühmte Interview, in dem sie über ihre gescheiterte Ehe, ihre Essstörungen und ihre Depressionen sprach.

    Harry und Meghan haben Großbritannien 2020 verlassen

    Diana wurde damals von dem BBC-Journalisten Martin Bashir bedrängt, er hatte ihr gefälschte Kontoauszüge vorgelegt und sie manipuliert, wie eine Untersuchung im Jahr 2021 noch einmal bestätigt hat. Harry und Meghan gehen dagegen – nach allem, was man weiß – aus freien Stücken an die Öffentlichkeit, ein Schritt, der ihnen immer wieder zum Vorwurf gemacht wird. Die größtmögliche Aufmerksamkeit ist für ihn der „letzte Ausweg“, hat Harry im ITV-Interview gesagt.

    Immer wieder habe er versucht, die Probleme intern zu regeln, sei jedoch gescheitert. Indem sie regelmäßig Artikel und Geschichten lancierten, hätten einige Familienmitglieder in seinen Augen bereits unzählige Bücher geschrieben. „Man hat Millionen Wörter in den Versuch gesteckt, meine Frau und mich schlecht zu machen – so sehr, dass ich irgendwann mein Land verlassen musste.“ In Harrys Erzählung ist das alles, der Umzug in das kalifornische Montecito, die Netflix-Serie, die Interviews, das Buch, ein Befreiungsschlag.

    64 Prozent der Briten haben eine negative Meinung von Prinz Harry

    In dieser Version der Dinge ist wenig Platz für Selbstkritik. Die Zuschauer oder Leserinnen sehen alles nur durch die Augen von Harry und Meghan oder ihnen gut gelittener Freunde. Wie Prinz William auf die Geschehnisse blickt, was sein Vater denkt, darüber lässt sich nur spekulieren oder zwischen den Zeilen mancher Artikel lesen. Das führt dazu, dass Königshaus und Königssohn ihren Kampf mit ungleichen Mitteln austragen. Die eine Seite schweigt, die andere spricht. Während Harry sein Leben wortreich vor den Augen der Öffentlichkeit seziert, setzen William und seine Frau Kate dem öffentliche Zurückhaltung entgegen – und die Sprache der Bilder: Auf Instagram sieht man William, wie er einen Orden verleiht. Kate steht vor dem Weihnachtsbaum, das Paar und die drei Kinder beim Wandern. Ein aktuelles Foto zeigt die erweiterte Königsfamilie bei einem Adventsgottesdienst, Charles, Camilla, William und Kate sitzen einträchtig nebeneinander. Die Botschaft ist klar: Wir sind eine Familie, wir stehen zusammen.

    Bei den meisten Briten scheint das besser anzukommen, die Frage nach Gut und Böse ist eindeutig beantwortet, zumindest, wenn man den Meinungsumfragen glaubt. Prinz Harry ist in der Gunst seiner Landsleute auf ein Rekordtief gerutscht. 64 Prozent gaben in einer YouGov-Befragung an, eine negative Meinung von ihm zu haben. Doch auch die Beliebtheit des Königshauses scheint unter der Familienfehde zu leiden. Der Anteil der Menschen, die ein positives Bild von der Monarchie haben, sank seit vergangenem November um sechs Punkte auf 54 Prozent. Der Anteil der Monarchie-Gegner stieg von 30 auf 35 Prozent.

    Prinz Harry glaubt an den Fortbestand der Monarchie

    Wer sich dieser Tage in Großbritannien umhört, dem bietet sich ein ähnliches Bild: „Viele meiner Kunden sind genervt“, sagt Maaz, Besitzer eines Zeitungskiosks in Stoke Newington im Nordosten Londons. „Es gehört sich nicht, so über seine Familie zu sprechen, insbesondere weil er eine hohe Stellung innehat”, betont der 59-Jährige. Ein älterer Herr mit Mundschutz und weißem Haar pflichtet ihm bei. Königin Elizabeth II. sei eine großartige Person gewesen – diplomatisch, clever. „Der Rest der Familie benimmt sich nun wie eine Horde zankender Kinder.“

    Und während die Royals-Expertin Pauline MacLaran überzeugt ist, dass sich Prinz Harry und Herzogin Meghan vorrangig selbst schaden, indem sie immer neue Details aus dem Privatleben der königlichen Familie preisgeben, sehen andere die britische Monarchie in Gefahr. „Das Buch markiert möglicherweise den Anfang vom Ende”, warnt die Autorin und Expertin Catherine Mayer. Diskussionen um Rassismus, Frauenfeindlichkeit und übertriebenen Reichtum könnten die öffentliche Zustimmung untergraben. „Dies ist nicht nur die Geschichte eines Prominenten. Es geht hier auch um den Zustand einer bedeutenden staatlichen Institution, die durch den Steuerzahler finanziert wird“, sagt Mayer.

    Harry teilt die Sorge um die Monarchie nicht. Ganz am Ende des Interviews fragt ihn Tom Bradby, ob er weiter an diese glaube. Die Antwort kommt sofort: „Ja.“

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