Anfangs verdeckte noch eine Sonnenbrille ihre Augen. Ein zumindest kleiner Schutz. Später ließ sie die Brille weg, ohnehin war sie in ganz Frankreich bekannt. Und ohnehin war es ihr wichtig, auf Anonymität zu verzichten. Denn sie wollte etwas verändern. Und dazu mussten alle sehen, was vorgefallen war. Dazu mussten alle sie sehen. Gisèle Pelicot ist zur Ikone der Frauenbewegung geworden, Graffitis und Plakate von ihrem Gesicht zieren Straßenmauern in mehreren französischen Städten. Was ihr angetan wurde, erschütterte Frankreich und die Welt. Und möglicherweise verändert es sie tatsächlich auch ein wenig.
An fast jedem Wochentag seit dreieinhalb Monaten brandet Applaus auf, sobald die 72-Jährige am Gerichtsgebäude von Avignon erscheint. Es sind überwiegend Frauen, die klatschen. Oft sind sie schon seit den frühen Morgenstunden vor Ort, um einen Platz im Nebensaal zu ergattern. „Bravo, Gisèle!“, rufen einige. „Wir sind bei Ihnen!“, andere. „Merci“, antwortet Gisèle Pelicot lächelnd, sie nickt den Frauen freundlich zu. Auch Geschenke hat sie bereits erhalten, Blumen. Und viel Post, wie ihr Anwalt Stéphane Babonneau erzählt hat. „Es ist wie beim Brief an den Weihnachtsmann: Von wo aus immer Sie an die Adresse Gisèle Pelicot, 8400 Avignon schreiben, es kommt beim Gericht an.“
Nur zufällig war die Polizei Dominique Pelicot auf die Schliche gekommen
In wenigen Tagen soll der Pelicot-Prozess nach aufwühlenden Monaten enden. Die französische Presse bezeichnete ihn als „historisch“: Zum einen in Bezug auf die hohe Zahl der 51 Angeklagten, zum anderen in Bezug auf die Taten. Fast zehn Jahre soll ihr früherer Ehemann Dominique Pelicot, von dem Gisèle mittlerweile geschieden ist, über eine inzwischen verbotene Internetseite Männer in ihr Zuhause im südfranzösischen Örtchen Mazan eingeladen haben – um gemeinsam seine Frau zu vergewaltigen. Zuvor soll er seine Frau mit Medikamenten, die er ihr ins Essen mischte, in einen komatösen Zustand versetzt haben. Die Taten soll er, so die Anklage, gefilmt und unter vulgären Stichworten abgespeichert haben. Und dann bezeichnete er sie auch noch als „Schlampe“, sie, die seiner Anwältin zufolge die „Liebe seines Lebens“ gewesen sei.
Nur zufällig kam ihm die Polizei auf die Schliche: Sie beschlagnahmte seine Computer, Festplatten und sein Handy, nachdem Dominique Pelicot, heute 71, in einem Supermarkt unter die Röcke von Frauen gefilmt hatte. Sonst hätte die permanente Verabreichung starker Schlafmittel Gisèle laut Medizinern irgendwann umbringen können. Sie hatte schwere gesundheitliche Probleme wie Erinnerungslücken und Schlafstörungen, ohne sich die Ursache erklären zu können; nicht ahnend, dass ihr eigener Mann, der Vater ihrer drei Kinder, dahintersteckte.
„Wie konntest du mich derart hintergehen?“, fragte sie ihn während des Prozesses. Eine „zerstörte Frau“ sei sie, so stark sie nach außen hin auch wirke. „Niemals wird sich diese Wunde schließen.“
Bei der Prozessvorbereitung sei er davon ausgegangen, dass seine Mandantin diesem nur anfangs folgen und sich danach zurückziehen würde, sagte Anwalt Stéphane Babonneau. Aber das wolle sie nicht, das könne sie nicht. Sie habe ja gesehen, dass manche einen Urlaubstag nähmen, um sie in Avignon zu unterstützen. Auf ihrem Weg ins oder aus dem Gericht trippeln häufig Fotografen und Kameraleute vor ihr her, um Bilder von ihr zu schießen. Gisèle Pelicot blickt über sie hinweg. Sie wirkt mitunter angestrengt, erschöpft von diesem Rummel. Doch es ist die öffentliche Aufmerksamkeit, die zu Veränderungen führen könnte.
„Ich hatte nicht die Absicht zu vergewaltigen“, sagten die meisten der Angeklagten
Nicht alle der rund 70 bis 80 Männer auf den Videos konnten identifiziert werden. Neben Dominique Pelicot standen 49 vor Gericht. Sowie ein weiterer Mann. Der soll mit Dominique Pelicot die eigene, ebenfalls betäubte Frau vergewaltigt haben. Die Angeklagten haben verschiedenste Berufe: Elektriker, Informatiker, Soldat. Manche sind im Rentenalter, andere waren zum Tatzeitpunkt gerade einmal Anfang 20. Die wenigsten räumten ihre Schuld ein, viele sprachen von Manipulation und Einschüchterung durch Dominique Pelicot. „Ich hatte nicht die Absicht zu vergewaltigen“, sagten die meisten, so als enthebe sie das Fehlen einer Absicht der Verantwortung.
Der 63-jährige Romain V. behauptete, er habe „soziale Bande“ gesucht und erst beim sechsten Mal, nach der sechsten Vergewaltigung, gemerkt, dass gemeinsame Theater- oder Kinobesuche nicht auf dem Programm stehen würden. Der 54-Jährige Ahmed D. sagte, wäre er ein Vergewaltiger, hätte er sich doch „eine schöne ...“ ausgesucht. Bei der Aussage des 43-jährigen Vincent C., er habe nicht nachgedacht, schnellen Sex gewollt und eben „genommen, was kommt“, verließ die sonst so stoische Gisèle Pelicot empört den Verhandlungssaal. Ein weiteres Mal tat sie das beim Plädoyer der Anwältin Sylvie Menvielle, die auf den Videos mit ihrem Mandanten Husamettin D. ein „sexuelles Spiel zu dritt“ erkannt haben wollte, bei dem die – tief betäubte – Pelicot „ihre Hüften in Stellung“ bringe.
Immer wieder in den vergangenen Monaten war Gisèle Pelicot mit dem Vorwurf konfrontiert worden, irgendeine Form der Mitverantwortung zu haben. Das sei ein altes, bekanntes Muster, betonen Feministinnen. Und wer weiß, wie oft es in der Vergangenheit Angeklagten half? „Manche Verteidigungsstrategien haben nicht mehr ihren Platz in einem Gerichtssaal in Frankreich im 21. Jahrhundert“, sagte Antoine Camus, Gisèle Pelicots zweiter Anwalt.
Allein dies offengelegt zu haben, ist ein Erfolg, den Pelicot erkämpft hat. Als herausragend gilt das Verfahren vor allem, weil es sieben Jahre nach Beginn der aus den USA kommenden #MeToo-Bewegung einer gesellschaftlichen Debatte in Frankreich neue Kraft verleiht. Hat das patriarchal geprägte System Taten wie jene in Mazan ermöglicht, bei denen Männer das Einverständnis zum Sex mit einer leblos daliegenden Frau durch ihren Gatten als ausreichend ansahen? Werden Vergewaltigungen weiterhin relativiert, wenn sie nicht von vermeintlich „typischen“ Sexualverbrechern begangen werden, die ihren Opfern nachts im Park auflauern – sondern von in die Gesellschaft integrierten Bürgern mit einem Beruf, einer Familie, Freunden? „Das sieht ihm nicht ähnlich“, sagten einige den Angeklagten Nahestehende. „Er ist doch kein Vergewaltiger.“
„Es gibt einen echten Wandel im Vergleich zur bisherigen Berichterstattung über Vergewaltigungen“, sagt eine Forscherin
Der Pelicot-Prozess hat damit aufgeräumt. Er hat zu Diskussionen im Land geführt. Und zu mehr. „Es gibt einen echten Wandel im Vergleich zur bisherigen Berichterstattung über Vergewaltigungen, da ausnahmslos alle Zeitungen, auch die konservativen, diesen Prozess behandeln, sie kommen gar nicht darum herum“, sagt Forscherin Claire Ruffio, spezialisiert auf die Medienberichterstattung über Vergewaltigungen seit 1980. Entscheidend mit angetrieben habe diesen Umbruch Gisèle Pelicot, indem sie auf sexuelle Gewalt als allgemeines Problem verwies, das ihr Schicksal übersteige. „Es wird Zeit, dass sich die Macho-Gesellschaft, die Vergewaltigungen banalisiert, ändert“, sagte Pelicot. Dafür kämpfe sie, deshalb komme sie jeden Tag zur Verhandlung.
Ruffio zufolge konzentrierten sich manche Journalisten auf die individuellen Schicksale der Täter, erklärten ein Verbrechen durch deren Lebenslauf und Psychologie; tatsächlich machten viele der Angeklagten, auch Dominique Pelicot, in jungen Jahren traumatisierende Erfahrungen, erlebten sexuellen Missbrauch, Gewalt, Verwahrlosung. Aber eben nicht alle. Zugleich werde das Thema laut Ruffio „verstärkt von einem soziologischen Blickwinkel auf das gesellschaftliche Umfeld mit der vorherrschenden männlichen Dominanz aus betrachtet“. Diese Tendenz nehme seit Jahren an Fahrt auf, auch durch #MeToo. Durch Fälle wie jenen des wegen der Vergewaltigung einer Hotelangestellten verurteilen, ehemaligen Chefs des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn. Oder durch entsprechende Vorwürfe in der Filmbranche, etwa gegen Gérard Depardieu. In Avignon aber gehe es nicht um Prominente, sondern „um das Paradox, dass vermeintlich normale Menschen so unglaubliche Taten begehen konnten“, betont Ruffio.
Fragt man sie, ob sich wirklich etwas ändere, macht sie auf das Besondere des Prozesses aufmerksam: Am ersten Tag entschied sich Gisèle Pelicot gegen eine Verhandlung hinter verschlossenen Türen. Sie wollte, sagte einer ihrer Anwälte, zeigen, dass nicht sie als Opfer Scham zu empfinden habe. Gegen den Willen der meisten Verteidiger und des Gerichtspräsidenten trat sie dafür ein, die Videos, so schockierend sie waren, als Beweismaterial öffentlich vorführen zu lassen: Aufnahmen von Vergewaltigungen aus nächster Nähe, oft in grellem Licht. Sie schnarchte teilweise laut, während sich die Männer über ihren Körper hermachten und dabei flüsterten, um sie nicht aufzuwecken. Die Szenen widerlegten jene Angeklagten, die behaupteten, sie hätten nicht gewusst, dass sie schläft.
Durch die riesige öffentliche Aufmerksamkeit liegt auf dem Gericht auch ein großer Druck. Die Staatsanwaltschaft hat relativ hohe Strafen gefordert: 20 Jahre Haft für Dominique Pelicot, für die anderen Männer zwischen zehn und 18 Jahren Gefängnis, nur für einen vier Jahre. Es gehe darum, „die Beziehungen zwischen Männern und Frauen tiefgreifend zu ändern“, sagte Staatsanwalt Jean-François Mayet. Durch das Urteil „werden Sie uns in der Erziehung unserer Söhne anleiten, denn die Erziehung bedingt den Wandel“, appellierte Staatsanwältin Laure Chabaud an das Gericht. Mit Blick auf diesen Prozess werde es für die französische Gesellschaft „ein Vorher und ein Nachher geben“. Dieselben Worte wählte zuvor der damalige Premierminister Michel Barnier.
Demgegenüber erklärte eine Anwältin der Verteidigung, Margot Cecchi, dass es einem Urteil nicht zukomme, „das Gesetz, die Gesellschaften oder die Mentalitäten zu ändern“. Das Gericht brauche „großen Mut, um dem medialen Ansturm standzuhalten“. Ihr Mandant jedenfalls habe sich „das Unvorstellbare nicht vorstellen können“.
Gisèle Pelicots Anwälte hatten auf die historische Dimension des Prozesses und auf die anstehenden Urteile abgestellt. Diese seien „das Testament, das wir den künftigen Generationen übertragen werden“. Der Name von Gisèle Pelicot werde nachklingen. Sie selbst war einmal gefragt worden, warum sie den Nachnamen nach der Scheidung, nach allem, was ihr angetan wurde, behalte. Ob das nicht eine fragwürdige Form der Solidarität mit ihrem Ex-Mann sei? Nein, antwortete sie. Es sei wegen ihrer Enkel, die ebenfalls Pelicot hießen und sich nie dafür schämen sollten. „Man soll sich vielmehr an Frau Pelicot erinnern, nicht an Herrn Pelicot“, sagte sie.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden