Herr Professor Brockmeyer, Sie sind Präsident der Deutschen Gesellschaft für sexuelle Gesundheit. Viele denken vielleicht, dass Erkrankungen wie Syphilis längst ausgestorben sind, doch die Zahl steigt. Nehmen sexuell übertragbare Infektionen, kurz STI, in Deutschland generell zu?
Professor Dr. Norbert Brockmeyer: Die sexuell übertragbaren Infektionen nehmen in Deutschland zu, und zwar kontinuierlich: So hatten wir im Jahr 2000 circa 800 Syphilis-Infektionen, heute sind es etwa 8300. Aber auch Chlamydien, Gonorrhö – umgangssprachlich Tripper genannt –, Hepatitis B und C sowie Herpes- und HPV-Viren werden sexuell übertragen.
Woher kommt die Zunahme?
Brockmeyer: Das hat sehr viele Gründe. Zum einen glauben viele Menschen bis heute, sie müssen sich nur auf HI-Viren testen und sich auch nur vor HIV schützen, die anderen STI führen ein Schattendasein. Die Aids-Aufklärungsarbeit war und ist sehr erfolgreich. Zu den Gründen, warum die STI zunehmen, gehört unter anderem aber auch, dass man heute über Chatrooms und andere digitale Wege wesentlich bequemer und schneller Sexpartnerinnen und Sexpartner findet. Mit der Zunahme von schnellen sexuellen Kontakten nehmen auch STI zu.
Es fehlt also an Aufklärung?
Brockmeyer: An der Aufklärung über STI fehlt es gewaltig: Wir bräuchten dringend schon in den Schulen viel mehr Aufklärung über sexuelle Gesundheit. Das sollten aber nicht die Lehrerinnen und Lehrer übernehmen, sondern externe Expertinnen und Experten. Leider lehnen aber viele konservative Eltern eine Aufklärung ab, weil sie glauben, dadurch würden ihre Kinder sexualisiert. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Wir wissen beispielsweise aus Studien aus den USA, dass Schülerinnen und Schüler, die gut aufgeklärt werden, viel später sexuelle Kontakte haben und weniger STI. Ich bin überzeugt davon: Hätten wir eine bessere Aufklärung zur Sexualität, würden wir die Kinder und Jugendlichen stärken und hätten auch weniger sexuelle Übergriffe, weil sich die Kinder schützen könnten.
HIV gilt heute als gut therapierbar. Wie gefährlich sind die anderen von Ihnen genannten STI, beispielsweise Chlamydien?
Brockmeyer: An Chlamydien erkranken viele junge Mädchen und Frauen, was zu Unfruchtbarkeit und auch Tumoren führen kann. Auch Gonokokken können im ganzen Körper streuen und beispielsweise eine Sepsis verursachen oder zu Unfruchtbarkeit führen.
Wie sieht es bei Herpes aus?
Brockmeyer: Herpesinfektionen sind sehr schmerzhaft und können gerade bei Frauen zu psychischen Traumata führen. Ich habe viele Patientinnen, bei denen regelmäßig, oft zu Beginn ihrer Regel, die Herpesinfektion im Genitalbereich ausbricht, denn Herpesviren bleiben ja immer im Körper. Diese Frauen haben dann Angst, Sex zu haben, weil er Schmerzen verursacht, was sehr belastend sein kann. Gegen Herpesviren wird aber aktuell mit großer Anstrengung an einer Impfung gearbeitet.
Gegen Humane Papillomviren gibt es bereits eine Impfung.
Brockmeyer: Die aber viel zu selten genutzt wird, obwohl wir längst wissen, dass diese Erreger Gebärmutterhalskrebs verursachen. HP-Viren können aber auch Karzinome im Analbereich oder am Penis bedingen. Und 50 bis 60 Prozent der diagnostizierten Rachenkarzinome gehen auf HPV zurück, denn sie werden auch über Oralverkehr übertragen. Umso wichtiger ist eine Impfung. Mittlerweile gibt es einen Impfstoff, der vor neun HPV-Typen schützt. Damit können 98 bis 99 Prozent der Tumorerkrankungen verhindert werden. In Australien sind die Impfquoten um ein Vielfaches höher als bei uns. Dort geht man davon aus, dass Gebärmutterhalskrebs bald nicht mehr vorkommt.
Wie hoch ist hierzulande die HPV-Impfrate?
Brockmeyer: Sie ist viel zu niedrig: Bei Mädchen sind es etwa 60 Prozent, bei den Jungen circa 25 Prozent – wir sind also weit von einem Ziel entfernt, um eine breite Bevölkerung zu schützen, dafür müsste die Quote bei über 80 Prozent liegen.
Fehlt es auch hier an Aufklärung?
Brockmeyer: Das Problem ist, dass wir in Deutschland keine Schulimpfungen mehr haben. Das heißt ja nicht, dass sich alle impfen lassen müssen, aber dadurch würden wir viel mehr jungen Menschen die Möglichkeit für diese wichtige Impfung geben und wir könnten dadurch Tausende Todesfälle im Jahr wirklich vermeiden.
Es läuft zumindest eine Infokampagne etwa an Bus- und Tramhaltestellen mit klaren Bildern und beispielsweise dem Satz „Mein Date juckt mich noch immer.“.
Brockmeyer: Die Kampagne finde ich grundsätzlich gut, weil sie auf das Thema aufmerksam macht. Allerdings unterstellt sie, dass STI jucken oder brennen. Das Problem ist aber, dass viele STI zunächst symptomlos verlaufen.
Das heißt, man merkt gar nicht, wenn man sich angesteckt hat?
Brockmeyer: Nun, wenn Patientinnen und Patienten wissen, dass sie eine STI haben, räumen viele auf Nachfrage schon ein, dass sie etwas bemerkt haben, beispielsweise Schmerzen oder Bläschen. Aber sie dachten, das ist nicht so schlimm. Bei Syphilis zum Beispiel bildet sich an der Eintrittsstelle des Erregers, oft am Penis, in der Vagina, aber auch im Mund oder im Anus ein Geschwür. Nach etwa zwei Wochen heilt es aber wieder ab, doch die Infektion bleibt. Dann folgt meist ein Hautausschlag. Aber auch der heilt wieder. Erst langfristig kommt es beispielsweise zu schweren Nerven- und Gefäßschädigungen, das kann bis hin zu einer Demenz führen.
Wie kann man sich schützen?
Brockmeyer: Die wichtige Impfung gegen HPV habe ich angesprochen. Gegen HIV kann man sich beispielsweise aber auch mit einer Prä- sowie einer Post-Expositions-Prophylaxe schützen, zudem wie vor anderen STI mit Kondomen, Femidome oder Lecktüchern. Entscheidend ist es, dass ich meinen Körper aufmerksam beobachte, wenn ich mit mehreren Menschen Sex hatte, Symptome ernst nehme und zu einem Arzt gehe, um mich untersuchen zu lassen. Bedauerlicherweise ist Sexualität ein absolutes Tabuthema. Wenn es um die eigene Unterhose geht, redet kein Mensch mehr über Sex. Bei HIV-Infektionen haben wir das Tabu nach meiner Beobachtung etwas aufgebrochen, darüber wird eher gesprochen, aber beispielsweise über Syphilis gar nicht. Daher kann ich nur dazu ermutigen, die sexuelle Gesundheit ebenso ernst zu nehmen wie andere gesundheitliche Bereiche und sie nicht zu verdrängen.
Zur Person: Prof. Dr. Norbert Brockmeyer, 71, ist Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Der Dermatologe widmet sich seit 40 Jahren der HIV/AIDS-Forschung und ist heute Präsident der Deutschen STI-Gesellschaft, Gesellschaft für sexuelle Gesundheit.