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Gletscher: Wie der Klimawandel einen kleinen Schatz an die Oberfläche beförderte

Gletscher

Wie der Klimawandel einen kleinen Schatz an die Oberfläche beförderte

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    Historiker Stefano Morosini im Bunker.
    Historiker Stefano Morosini im Bunker. Foto: Nationalpark Stilfserjoch

    Walter Belotti kennt die italienischen Alpen wie wenige andere. Seit er ein kleiner Bub ist, klettert der Bergführer durch Norditalien. Immer wieder stieß der heute 68-Jährige aus Temù in der Provinz Brescia dabei auf Fundstücke aus dem Ersten Weltkrieg. Es war um 2008, als ihm am Stilfserjoch an der Grenze zwischen Lombardei, Trentino und der Schweiz, der Eingang zu einer Grotte auffiel. Hier verlief seit 1915 die Front. Doch nichts zu machen. Das Eis des Platigliole-Gletschers war zu fest, um in die Höhle vorzudringen.

    Längst ist das anders. Der Klimawandel lässt die Gletscher schmelzen, auch am Stilfserjoch. Vor einigen Jahren war dann der Zugang zur Grotte unterhalb des Monte Scorluzzo (3100 Meter) möglich. Belotti und seine Bergfreunde schoben sich durch einen Spalt, kletterten bäuchlings in die Grotte und kamen aus dem Staunen nicht mehr hinaus. „Sie müssen sich vorstellen, sie frieren etwas für 100 Jahre ein“, sagt Belotti am Telefon, „und plötzlich kommt es zum Vorschein“.

    Bergführer Walter Belotti erzählt, wie er in einer Grotte aus dem Staunen nicht mehr herauskam

    Die teilweise aufgeschmolzene, aber im Inneren noch immer vereiste Grotte war ein Unterstand für etwa 20 österreichisch-ungarische Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, ein besonders rarer Fund. Ihren unterirdischen Bunker hatten die Soldaten mit Holz ausgestattet, auf einem Regalbrett fand Belotti ein paar Handschuhe sowie eine Postkarte. Die Aufschrift: „Vergiß mich nicht.“ Diese Botschaft hatte vor über 100 Jahren wohl einer der Soldaten von seiner Liebsten erhalten.

    Die Forscher fanden Besteck, Dosen, Essensreste, Tierknochen, Reste von Uniformen, Tagebücher, Briefe, eine Bibel, Lampen, Werkzeug, Granaten, Decken, einen Ofen sowie gefrorenes Stroh, auf dem die Soldaten gelagert hatten. „Der Fund ist ein Unikum und von großem wissenschaftlichen Interesse“, sagt der Historiker Stefano Morosini von der Universität Bergamo. „Die Höhle wurde wohl im Spätsommer 1915 gegraben und erst zum Waffenstillstand am 3. November 1918 wieder verlassen.“

    „Wir haben es bei der Grotte mit einer Zeitkapsel zu tun“, sagt der Historiker Stefano Morosini

    Nicht nur Historiker, auch Botaniker interessieren sich für die Grotte. So sprossen einige aus dem Stroh gefallene Samen wieder auf, es handelte sich um wilde Geranien von 1918. „Wir haben es bei der Grotte mit einer Zeitkapsel zu tun“, sagt Morosini.

    Während die Bedingungen für die Soldaten im Sommer wohl erträglich waren, müssen sie bei bis zu minus 30 Grad im Winter Kälte und Hunger gelitten haben. Nach dem Verlassen bemächtigte sich die Natur der gegrabenen und von den Soldaten mit einem Ofen beheizten Höhle, das Tropfwasser gefror und konservierte das Innere der zwölf Meter langen und drei Meter breiten unterirdischen Baracke.

    Doch die Gletscher schmelzen seit Jahrzehnten. „Jeden Sommer schmilzt der Patigliole-Gletscher hier um etwa sechs Meter“, weiß Giuglielmina Diolaiuti, Umweltwissenschaftlerin an der Universität Mailand. Der Grund: der Anstieg der globalen Temperatur. Auf Fotos aus dem Ersten Weltkrieg ist der Gletscher noch deutlich zu sehen, inzwischen ist er so gut wie verschwunden. Trotz allem war das für die Weltkriegs-Historiker im Nationalpark Stilfserjoch eine Fügung.

    In Kooperation mit dem Nationalpark, auf dessen Gebiet die Grotte unterhalb des Monte Scorluzzo liegt, sicherten die Bergführer den Fund. Walter Belotti ist Vorsitzender des „Museums des Weißen Krieges“ in Temù, einer der größten Spezialsammlungen aus dem Ersten Weltkrieg in den italienischen Alpen. Seit Jahren sammeln er und seine Freunde Fundstücke aus dem Krieg in den Alpen. Kanonen gehören dazu, Schlitten und Schlittschuhe zum Artillerie- und Waffentransport auf den Gletschern.

    „Es gibt einen Haufen von Menschen, die sich auf eigene Faust auf die Suche nach Kriegsrelikten machen", sagt Belotti

    Drei Sommer lang seit 2017 stellten die Liebhaber die Funde im Bunker am Monte Scorluzzo sicher. Sie benutzten dazu Hochdruckreiniger mit warmem Wasser, um nicht mit Pickelschlägen ihre Funde im Eis zu zerstören. 2020 war alles archiviert, die Holzstruktur in ihre Einzelteile zerlegt. Sie lagert wie die Fundstücke in einem Depot in Bormio und soll in einem Weltkriegs-Museum in einer alten Feldjäger-Kaserne im Ort wieder aufgebaut werden. 4,6 Millionen Euro sind für das Projekt vom italienischen Staat, von der EU sowie von der Region Lombardei bereitgestellt. 2023 soll Eröffnung sein.

    Fundstücke der Bergführer aus dem Ersten Weltkrieg.
    Fundstücke der Bergführer aus dem Ersten Weltkrieg. Foto: Nationalpark Stilfserjoch

    Walter Belotti marschiert unterdessen weiter durch die Ortler-Gruppe an den Schauplätzen des Ersten Weltkriegs, in Zusammenarbeit mit dem Museum in Temù bietet er Führungen an. Allerdings ist er dabei nicht alleine. „Es gibt einen Haufen von Menschen, die sich auf eigene Faust auf die Suche nach Kriegsrelikten machen, dabei sind wir vom Museum die einzigen, die eine Lizenz dafür haben“, sagt er. Zu finden sind Waffen, Alltagsgegenstände, ab und zu auch ein Knochen eines gefallenen Soldaten.

    „Es gibt nicht mehr viel“, sagt Belotti. „Die Souvenirjäger, manche nennen sie auch Schakale, haben das meiste schon abgeräumt.“

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