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Geheimnisse unter Berlin: Fluchttunnel im Kalten Krieg

Ein historischer Ort: der Bunker unter der Dresdner Straße in Berlin.
Foto: Christian Grimm
Berliner Mauer

Die Unterwelt Berlins gibt ihre Geheimnisse preis

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    Als das Telefon in der Westberliner Polizeiwache läutet, nimmt Martin Wagner den Hörer in die Hand. Vom anderen Ende der Leitung meldet sich eine Stimme in sächsischem Schlag: „Warum ist Ihr Posten nicht besetzt?“ Wagner dämmert an diesem Sommertag des Jahres 1963, dass er ein Problem hat. Ein drängendes. Der Chef des Reviers schnappt sich zwei Mann und steigt dann hinab in die Unterwelt. Ein ehemaliger Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg verbindet die geteilte Stadt unterhalb der Dresdner Straße, er geht in den dunklen Schacht über, durch den die U-Bahnen rauschen.

    Polizisten aus dem Westen hocken rund um die Uhr in einem Posten, schieben Wache. Sie sollen ein Überraschungsmanöver des Ostens verhindern. DDR-Grenztruppen könnten schließlich über die verborgenen Wege in den Westteil der Stadt einsickern und neuralgische Punkte besetzen. Doch an diesem Tag hat es der Posten nicht so genau genommen, schwatzt mit dem Bahnhofsvorsteher der Berliner Verkehrsbetriebe. Die arbeiten auch unterirdisch. Nach wenigen Minuten jedenfalls haben die Polizisten ihr verwaistes Wachhäuschen erreicht.

    Die sächsische Stimme gehört zu einem Unteroffizier der DDR-Grenztruppen. Verliert er oder Wagner die Nerven, kommt es zu einem Zwischenfall an der Grenze, dann ist das keine lokale Angelegenheit mehr. Dann betrifft es BRD und DDR, die vier Besatzungsmächte und letztlich Washington und Moskau. Nirgends stehen sich die Supermächte USA und Sowjetunion so dicht gegenüber wie in Berlin.

    Dietmar Arnold erzählt eine abenteuerliche Geschichte

    Der DDR-Unteroffizier entscheidet sich, den „antikapitalistischen Schutzwall“ nicht mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Er wird abgeführt und auf die Wache in den Westen gebracht. Kurz darauf klingelt es dort ein zweites Mal. Und Wagner muss wieder runtersteigen: Zwei nervöse junge DDR-Grenzer suchen ihren Unteroffizier, fragen Wagner, wo der ist. „Das kann ich Ihnen nicht sagen“, gibt ihnen Wagner zurück. „Aber es steht Ihnen frei, selber nachzuschauen.“

    Die beiden stehen an einem Wendepunkt ihres Lebens: Nach einem Augenblick schmeißen sie ihre Maschinenpistolen weg und machen rüber in den Westen, wie man das damals so sagt.

    Dietmar Arnold gräbt die verschüttete Geschichte Berlins aus und bringt sie seit Ende der 90er Jahre zurück ans Licht. Nach einem Jahr Buddelei fand er einen verborgenen Gang.
    Dietmar Arnold gräbt die verschüttete Geschichte Berlins aus und bringt sie seit Ende der 90er Jahre zurück ans Licht. Nach einem Jahr Buddelei fand er einen verborgenen Gang. Foto: Christian Grimm

    Der Mann, der diese alte Geschichte aus dem Kalten Krieg erzählt, heißt Dietmar Arnold. Er erzählt sie nicht in einem Büro oder dem Lehrstuhl einer Universität, sondern dort, wo sie sich zugetragen hat. Im Gefunzel der an den grauen Betonwänden angebrachten Lampen im alten Bunker unter der Dresdner Straße. „Die zwei Soldaten mussten binnen Sekunden das Leben neu entscheiden. Freunde, Familie hinter sich lassen“, sagt er. Arnold gräbt die verschüttete Historie Berlins aus und bringt sie seit Ende der 90er Jahre zurück ans Licht. Er tut das manchmal im Archiv über Akten gebeugt, aber viel lieber im Bauch und Gedärm der Stadt.

    Aufgewachsen ist er im Schatten der Mauer auf der Westseite Berlins. Im Jahr 1988, da ist Deutschland noch geteilt, geht er zum Studium nach Paris. Unter seinen Kommilitonen der Stadtplanung gibt es einige Verrückte, die es in die Katakomben zieht, um diese zu erkunden und zu vermessen. In den steinernen Schläuchen unterhalb der Stadt wurden früher die Toten bestattet, Schädel und Knochen zeugen heute noch davon. Arnold schließt sich einer der Studentengruppen an, von da an lässt ihn die verborgene Welt nicht mehr los.

    Tonnenweise Schutt hat er mit seinen Mitstreitern vom Verein Berliner Unterwelten aus Tunneln, Schächten und Gängen geschafft. Der Verein hat über 500 Mitglieder. Eimer um Eimer, Schubkarre um Schubkarre haben sie vollgemacht und rausgeschleppt. Wenn der Unrat beseitigt und das Gemäuer gesichert ist, zeigen die Unterweltler Berlinern und Touristen das Verborgene. Im Jahr 35 des Mauerfalls werden es 300.000 sein.

    Teils steht das Wasser im Tunnel hüfthoch

    Arnold hält den Lichtkegel seiner Taschenlampe auf die Wand, die phosphorgrün zu leuchten beginnt. Schon Anfang der 1940er Jahre wurde auf dem Beton ein weißer Streifen gepinselt. Wenn nach einem Bomberangriff der Briten und Amerikaner der Strom ausfiel, konnten sich die Schutzsuchenden so in der Dunkelheit orientieren. Ein Teil des Betonschlauchs steht inzwischen unter Wasser. Es ist von oben eingesickert. Arnold und ein gutes Dutzend Vereinsmitglieder steigen in Gummihosen und waten durch das hüfthoch stehende Wasser. Es ist keine stinkende Brühe, sondern überraschend sauber. Das Wasser presst die Gummihaut eng an die Beine, von den Füßen steigt die Kälte langsam nach oben.

    Ein Teil des Betonschlauchs steht gerade unter Wasser.
    Ein Teil des Betonschlauchs steht gerade unter Wasser. Foto: Christian Grimm

    Links und rechts eines langen Korridors finden sich kleine Kammern. Nur noch das Licht der Taschenlampen weist jetzt den Weg. Die Stille wird vom Patschen der Schritte durchschnitten. Der Bunker, der einst in den 1920er Jahren als U-Bahntunnel angelegt wurde, hatte rund 1100 Plätze. In einige trockene Kammern haben die Berliner Unterweltler alte Koffer gestellt und Doppelstockbetten nachgebaut, auf denen die vor den Bomben Schutzsuchenden schlafen konnten. Die Räume unter der Erde waren für Mütter und Kinder gedacht. „Bei Luftalarm betrug die Vorwarnzeit rund 20 Minuten. Eine Mutter mit drei oder vier Kindern hätte es da nicht geschafft, die Kleinen anzuziehen“, sagt Arnold im Schein der Taschenlampen. Als sich der Luftkrieg in den letzten Kriegsjahren immer heftiger gegen Nazi-Deutschland und die Reichshauptstadt richtete, wurde der Bunker deshalb bei Nacht zur festen Bleibe für die Mütter und Kinder aus den umliegenden Stadtteilen. Mit jeder Angriffswelle drängten mehr Familien nach unten. Die Plätze reichten nicht aus, die vier- bis fünffache Zahl Angsterfüllter ballte sich in den Gängen und Räumen. Hitler und Goebbels hatten zu wenige Bunker anlegen lassen.

    Nachdem der Krieg verloren war und Berlin in Ruinen stand, wurde die Betonröhre nicht verfüllt wie andere Bunker. Deshalb belauerten sich dort auch Westberliner Polizei und NVA-Soldaten, denn der Tunnel lag unterhalb der Sektorengrenze, die mit dem Mauerbau am 13. August 1961 zu jenem Eisernen Vorhang wurde, von dem Churchill gesprochen hatte. Das letzte erhaltene unterirdische Stück dieser Barriere findet sich heute dort. Um eine Flucht an dieser Stelle unmöglich zu machen, hatte die DDR den Tunnel zugemauert und darauf Metallplatten angebracht, die unter Putz lagen. Die Platten wiederum waren über Drähte unter Strom gesetzt. Wäre ein Flüchtling irgendwie an den Grenzern vorbeigekommen und hätte hier seine Hacke angesetzt, wäre der Stromfluss in den Platten unterbrochen und dadurch Alarm ausgelöst worden. An dieser engen Stelle ist deshalb wohl niemandem die Flucht in die Freiheit gelungen.

    Das letzte erhaltene unterirdische Stück der Berliner Mauer: Um eine Flucht an dieser Stelle unmöglich zu machen, hatte die DDR den Tunnel zugemauert.
    Das letzte erhaltene unterirdische Stück der Berliner Mauer: Um eine Flucht an dieser Stelle unmöglich zu machen, hatte die DDR den Tunnel zugemauert. Foto: Christian Grimm

    Doch der Weg nach unten, in die Tiefenschichten Berlins war ein Weg nach draußen aus Walter Ulbrichts Arbeiter- und Bauernstaat. Bis heute sind 76 Fluchttunnel bekannt, die meisten davon an der Bernauer Straße zwischen den Stadtteilen Mitte (damals im Osten) und Wedding. Vor ein paar Jahren ging Arnold dort auf die Suche. Er wusste von einem der letzten Tunnel, die Anfang der 70er Jahre in die Erde getrieben wurden. Die Grabrichtung – wie in den allermeisten Fällen – führte von Ost nach West. Sand und Erde wegzuschaffen, wäre im Osten nicht möglich gewesen.

    Die Fluchthelfer wurden einst kurz vor dem Ziel verraten

    In den direkt an der Mauer liegenden Straßenzügen kontrollierten die Grenzer auch die Keller. Nach einem Jahr Buddelei fand Arnold den verborgenen Gang. Er war dereinst 1,20 Meter hoch und 90 Zentimeter breit. Tunnel 71 wird er nach dem Jahr seiner Erbauung genannt. Die mehrmonatige Plackerei der sechs Fluchthelfer aus dem Westen war nicht erfolgreich. Über 100 Meter waren sie vorgedrungen, um kurz vor Schluss verraten zu werden. Sie wären in der Küche oder dem Klo eines der Häuser im Osten rausgekommen. In Schichten hatten sie vergeblich schwitzend gewühlt und gehackt. „Wühler“ war dann auch der Stasi-Jargon für die Tunnelbauer. Zwar entgingen sie der Verhaftung durch die Staatssicherheit, doch 17 Ostdeutsche hatten weniger Glück. Sie wurden verhaftet und danach ins Gefängnis gesteckt. Bis heute ist nicht klar, welcher Maulwurf das Projekt auffliegen ließ.

    Nachdem sie den Tunnel 71 gefunden hatten, bauten Arnold und seine Unterweltler selbst einen Tunnel. Er führt vom einstigen, backsteinernen Bierkeller einer alten Brauerei auf einer Länge von 30 Metern am echten Fluchttunnel vorbei. Über 2.000 Kubikmeter Schutt und Abraum musste herausgeholt werden, 260 Kilogramm schwere, graue Betonstreben stützen das Bauwerk. Gearbeitet wurde anderthalb Jahre von Hand mit Eimer, Schubkarre, Schaufel und Flaschenzügen. In dem Gang kann man bequem stehen, an einer Stelle kreuzt er den Tunnel, der vor über 50 Jahren ein Weg in den Westen werden sollte. Ein etwa ein Meter breites Fenster gibt den Blick frei auf den schmalen Durchgang. Es ist der einzige Fluchttunnel, den man heute anschauen kann. Der Weg aus der DDR war schmal.

    Michael Siewert hat den Besuchertunnel mit gegraben. Aufgewachsen ist er im Osten, ganz in der Nähe des Tunnels, der die Mauer unterminieren sollte. Unter den Augen der DDR-Grenzer hat er Fußball gespielt. Er erinnert sich, wie bunt die Werbung damals im Wedding war. An Flucht hat er nie gedacht. „Ich wusste immer, dass ich das nicht versuchen werde“, erzählt er acht Meter unter der Erde. Gemeinsam mit dem Westberliner Arnold wühlt er sich durch die geteilte Geschichte der Stadt, die vor 35 Jahren ihre Spaltung überwunden hat. Von den 76 Fluchttunneln waren 19 erfolgreich, 300 Ostdeutsche gelangten unterirdisch in die Freiheit.

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    1 Kommentar
    Robert Miehle-Huang

    Am 9. November 1990 jährte sich der Mauerfall zum ersten Mal. Zum wievielten Mal also jährt er sich heute?

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