Der Schock über das blutige und ebenso unnötig brutale Ende von Franziska Weisz als "Tatort"-Ermittlerin im hohen Norden ist noch nicht überwunden, da muss sich das Fernsehpublikum schon auf den nächsten Abschied gefasst machen: Batic und Leitmayr, die ergrauten Posterboys des Sonntagabendkrimis, machen nach der 100. Folge Schluss. Bis die läuft, dauert es zwar noch bis 2025, aber das ist auch gut so, eine Schockentwöhnung wäre schwer zu verkraften nach drei Jahrzehnten inniger Beziehung zwischen dem Münchner Team und seinen Fans.
Mitte Februar quittiert erst mal Florence Kasumba alias Anais Schmitz als "Tatort"-Kommissarin in Göttingen den Dienst. Borowski in Kiel, Gorniak in Dresden, zuletzt Janneke und Brix in Frankfurt: Die "Tatort"-TV-Präsidien erlebten in den vergangenen Monaten eine wahre Kündigungswelle. Gleichzeitig häuften sich schlechte Kritiken und vorhersehbare Plots. Kann der älteste Krimi des deutschen Fernsehens selbst seine Ermittlerinnen und Ermittler nicht mehr überraschen? "Das kann man so nicht sagen", findet Stefan Scherer, Deutschlands wichtigster "Tatort"-Psychoanalytiker, "weil es ganz verschiedene Gründe für solche Ausstiege gibt." Scherer, Professor am Institut für Germanistik des Karlsruher Instituts für Technologie, erforscht seit Jahren die Krimireihe, etwa auf gesellschaftliche Entwicklungen. Bezogen auf die Ausstiege verweist Scherer auf das Frankfurter Team, gespielt von Margarita Broich und Wolfram Koch: Diese beiden wollten einfach wieder mehr Zeit fürs Theater haben.
Das haben sie tatsächlich so gesagt, doch immer wieder hört man aus den Abschiedsworten der Darstellerinnen und Darsteller eine latente Kritik an den Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Figuren heraus. Franziska Weisz, neben Wotan Wilke Möring die deutlich tiefgründigere Figur in Hamburg, kommentierte jüngst die Meldung des WDR, dass ihr Charakter "auserzählt" sei und deshalb im "Tatort" künftig keine Rolle mehr spielen werde. "Wenn für Facettenreichtum der Raum nicht besteht, dann ist eine Figur natürlich auch bald auserzählt", sagte Weisz kürzlich – um dann optimistisch zu ergänzen: Es gebe außerhalb des "Tatorts" viele unterschiedliche Rollen, "die Spielwiese ist so groß, und ich begrüße Entfaltungsmöglichkeiten". Freiheit, die ihr im "Tatort" offenbar fehlte.
"Tatort"-Kommissare stellen oft vor allem Fragen
Karin Hanczweski, die ihre letzte Folge als Dresdner Fahnderin Karin Gorniak schon abgedreht hat, wünschte sich nach acht Jahren "Tatort", in neue Rollen zu schlüpfen. Nachvollziehbar, auch viele Arbeitnehmer, die im Alltag von Kameras so weit entfernt sind wie Mario Barth von einer Thomas-Mann-Verfilmung, denken nach dieser Zeit über einen Jobwechsel nach. Im Interview mit unserer Redaktion hatte Hanczewski einmal beschrieben, wie viel – oder wenig – Mitspracherecht sie bei den Drehbüchern hat: "Ich bekomme das Buch, wenn es fertig ist, und habe dann einen gewissen Raum, eigene Gedanken einfließen zu lassen." Gerade in den Rollen der Kommissarinnen bestehe "die Gefahr, nur eine Funktion zu erfüllen", nämlich die notwendigen Fragen zu stellen. Wo waren Sie am Dienstagabend um 22 Uhr? Fühlten Sie sich in letzter Zeit bedroht?
Dass auch der "Tatort" bedroht ist durch die vielen Ausstiege, diese Gefahr sieht Krimiforscher Stefan Scherer nicht. "Die Reihe kann sich durch neue Konzepte und Ermittlerfiguren stets erneuern", sagt er. Obwohl die Quoten seit einiger Zeit rückläufig seien – mit Ausnahme einzelner Publikumslieblinge –, seien sie im Durchschnitt aber immer noch hoch. Allerdings: "Die Zuschauerinnen und Zuschauer wählen in den letzten Jahren mehr nach ihren Lieblingen aus, schauen also nicht mehr so entschieden jeden 'Tatort', der läuft", beobachtet Scherer. Er sieht die Kündigungswelle sogar als Chance. Bei den Ermittelnden seien so manche mögliche Facetten noch nicht ausgereizt: "Politisch okkupierte Figuren – Sympathisanten für rechts oder links – gibt es immer noch ebenso wenig wie queere Figuren." Bei Kommissar Karow (Mark Waschke) in Berlin sei die angedeutete Homosexualität wieder zurückgefahren worden.
Scherer hat Hunderte "Tatort"-Folgen aus allen Jahrzehnten gesehen und weiß, was die Mehrheit der Zuschauerinnen und Zuschauer vielleicht längst vergessen hat: "Ausstiege gab es immer, also von Beginn an und verstärkt etwa 1980. Die Sender müssen es dann nur schaffen, neue Figuren und Teams zu etablieren." Selbst der wohl berühmteste aller "Tatort"-Ermittler hat seinen Aufstieg einem Ausstieg zu verdanken: Schimanski in Gestalt von Götz George gab es nur, weil mit Hansjörg Felmy in der Rolle seines Vorgängers Haferkamp bis heute einer der beliebtesten Ermittler ausgeschieden war.