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Foto: S. Gregorowius, H. Kaiser, B. Wüstneck/dpa; Imago Images
Foto: S. Gregorowius, H. Kaiser, B. Wüstneck/dpa; Imago Images

Harry Wijnvoord dreht wieder am Rad von „Der Preis ist heiß“, „Wetten, dass ..?“ erlebt in diesem Jahr eine weitere Ausgabe und „TV total“ ist auch zurück.

Fernsehen
10.05.2022

Die perfekte Welle: Retro-TV flutet das Fernsehprogramm

Von Daniel Wirsching

Über Fernsehdeutschland schwappt eine Retro-Welle. Zu bestaunen gibt es einen Riesenflamingo, eine Mickey Mouse mit Sonnenbrand und allerorten lodernde Lagerfeuerchen.

Da ist er platt. Die schreienden Farben, das schreiende Publikum. Er wird nicht vergessen haben, wie es war, als er 1989 zum ersten und 1997 zum vorerst letzten Mal diese Bühne betrat. 1873 Folgen. Jetzt ist er zurück, zur besten Sendezeit. Und als man so bei sich denkt, ihm müssten bei all dem Geblinke, Geflacker, Gekreische und Gepfeife im Fernsehstudio Augen und Ohren schmerzen, sagt er „Wow“, deutet eine Verbeugung an und klopft sich mit der flachen Hand mehrfach auf die Brust.

„Schön, dass Sie wieder mit dabei sind, hier bei ,Der Preis ist heiß‘“, sagt der großväterlich-großherzige Niederländer Harry Wijnvoord, der am Donnerstag 73 wird. 25 Jahre habe er auf diesen Moment gewartet. Wenn man nicht genau wüsste, dass es 2022 ist… Wer fernsieht, sieht das nämlich nicht, nicht auf den ersten Blick. Sondern sieht in eine mehr oder minder ferne Vergangenheit. In Vergangenheiten. Und zwischen denen lässt sich vom Fernseh-Sofa aus mit der Fern-Bedienung hin und her zappen. Wie am vergangenen Mittwochabend.

Man kann wählen: späte 80er/90er oder späte 90er und später

An dem kann man wählen: späte 80er/90er oder späte 90er und später. Zwischen „Der Preis ist heiß“ auf RTL also (mit dem Moderator von ehedem) und „TV total“ auf ProSieben (mit Sebastian Pufpaff statt Stefan Raab).

Ein Abend mit Riesenflamingo und platten Boris-Becker-sitzt-im-Knast-Witzen. Mit Sätzen wie: „Ich will jetzt meine Muscheln mischeln“ (Wijnvoord) und „Mit kleinen Räumen kennt er sich ja aus, Stichwort Besenkammer“ (Pufpaff). Dazwischen: Werbung für ein Mittel gegen Nagelpilz.

Angelina, Sie haben einen Rasenmäher-Traktor gewonnen!

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Eine Retro-Welle schwappt über Fernsehdeutschland. Und wärmt die Herzen von Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern. Knapp drei Millionen sahen die zur zweistündigen Abendshow aufgeblasene Wiederkehr von „Der Preis ist heiß“, einer Show, in der der Preis eines aufblasbaren Riesenflamingos für den Pool oder eines „automatischen Schuh-Erfrischers“ geschätzt werden muss. Aber Achtung, eherne Regel: „Nicht überbieten!“

Kandidatin Nadine freut sich wie ein Duracell-Hase in "Der Preis ist heiß"

Und als man so bei sich denkt, dass das einigermaßen irre ist anno 2022 und bei Inflationsraten von mehr als sieben Prozent, freut sich eine Nadine wie ein Duracell-Hase, dass sie als erste Kandidatin zu Wijnvoord darf, ihrem „Held meiner Kindheit“. Wijnvoord small-talkt sich wie eh und je durch die Sendung der heißen Preise, und endlich gewinnt Kandidat Kevin um 21.58 Uhr einen „nigelnagelneuen“ Kleinstwagen.

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Foto: Daniel Karmann, dpa
Foto: Daniel Karmann, dpa

Thomas Gottschalk in der Jubiläumsshow "Wetten, dass..?" im November 2021.

Zum Glück ist zu diesem Zeitpunkt die Lustige-Fernseh-Schnipsel-Show „TV total“ beendet, in der Stefan-Raab-Klon Pufpaff („Der Hüter des guten Geschmacks“) sich an Boris Becker, Karl Lauterbachs Nase (samt angeblichem Popel), der Sat.1-Datingshow „Liebe im Sinn“ oder „Germany’s Next Topmodel“-Liebling Sophie abgearbeitet hat, wie es früher Stefan Raab nicht anders, jedoch zu Hochzeiten wesentlich besser getan hätte:

Herzlich willkommen, meine sehr verehrten Damen und Herren, zu „TV total“! Yeah! Mann ey! Guad! Sehr schön! … Sind Sie richtig gut gelaunt?

Das TV-Lagerfeuer, das längst erloschen geglaubt war, lodert wieder. Anfang November zum Beispiel sahen um die 14 Millionen Zuschauer, fast 46 Prozent Marktanteil, wie der herbstblonde 71-jährige Thomas Gottschalk „Wetten, dass ..?“ auferstehen ließ. Ein Retro-Festival der Glückseligkeit.

Jörg Draeger und der Zonk betreten die Showtreppe von "Geh aufs Ganze!" wie Zeitreisende

Das war auch die 90er-Jahre-Gameshow „Geh aufs Ganze!“, in deren „Comeback-Staffel“ (Sat.1) ab Ende November der mittlerweile 76-jährige Jörg Draeger 18 Jahre nach Ausstrahlung der letzten Folge – damals schon die einer Neuauflage – abermals fröhlich zockte. Nachdem er und die lebensgroße Plüschfiguren-Niete namens „Zonk“ auf der Showtreppe erschienen waren wie Zeitreisende. Zuvor hatte der Zonk eine Papp-Sprechblase in die Kamera gehalten: „Die Kiddies von heute werden noch denken, ich wäre eine Mickey Mouse mit Sonnenbrand!“ Draeger trug Schnäuzer und Einstecktuch, wie zum Start 1992:

Welches Tor soll es sein? Das Tor 1 oder das Tor 2 oder das Tor 3? Die 3 soll es sein … Stefan, das heißt: Sie haben jetzt 5.999 Mark sicher.

Stefan zockte und gewann: einen Nissan 200 SX Turbo, „ein Sportwagen zum Träumen“, im Wert von 41.995 DM. Das Privatfernsehen hatte einst ja nicht nur Lagerfeuer entzündet, sondern unter anderem einen genialen Weg gefunden, Werbung und Entertainment zu vereinen. „Werbesendung“ wurde oben am Bildrand eingeblendet. Jüngere TV-Geschichte.

Jahrzehnte danach brennen allerorten Fernseh-Lagerfeuerchen, und kaum ist eines abgebrannt, wird Brennmaterial nachgelegt.

RTL kündigt eine ganze Reihe von Neuauflagen an - bald schon kommt „Das RTL Turmspringen“

Am 3. Juni zeigt RTL „Das RTL Turmspringen“. Das hatte sich Entertainment-Tausendsassa Raab, der sich 2015 aus dem Rampenlicht verabschiedete, ausgedacht und 2004 als „TV total Turmspringen“ auf ProSieben erstmals in die deutschen Wohnzimmer gebracht. Er produziert das Turmspring-Live-Event („Nackte Angst trifft auf nackte Haut“) genauso wie „TV total“ mit Pufpaff.

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Foto: M. Balk, dpa
Foto: M. Balk, dpa

Stefan Raab will nicht mehr selbst moderieren - als Produzent prägt er aber weiter das deutsche TV-Programm mit.

Im Laufe des Jahres soll auch „Die 100.000 Mark Show“ mit der 60-jährigen Ulla Kock am Brink ein Comeback feiern und damit „dem Retro-Trend bei RTL noch mehr Platz“ gegeben werden, wie Henning Tewes, Geschäftsführer RTL Television, im Februar sagte.

Für den Winter steht ein Wiedersehen mit Hape Kerkeling als Animateur Edwin Öttel im „Club Las Piranjas“ auf dem Programm – aus der Fernsehkomödie von 1995 wird eine Miniserie für den Streamingdienst RTL+. Undundund.

„Je unsicherer die Zeiten allgemein, desto größer der Wunsch nach Vertrautem", sagt der RTL-Geschäftsführer

Und wenn etwas nicht so zündet wie kürzlich die Neuauflage der Comedy-Runde „7 Tage, 7 Köpfe“ oder die der Kult-Krimiserie „Balko“ – als „Balko Teneriffa“ auf RTL? Sei’s drum. Die Zeiten verlangen nach Nostalgie. Oder in Tewes Worten: „Je unsicherer die Zeiten allgemein, desto größer der Wunsch nach Vertrautem.“

Die Zeiten sind unsicher und besonders. Dass sie das sind, liest man täglich in der Zeitung, sieht man täglich in den Nachrichten, wird einem täglich auf Twitter entgegengebrüllt. Pandemie, Ukraine-Krieg, Hass und Hetze. Das volle Programm.

Über das, geht es ums Fernsehen, wird geschimpft – zu viel oder zu wenig Krimis, Talks, Sport; zu seicht, zu teuer („Zwangsgebühren!“), zu links-grün (ARD und ZDF), zu krawallig oder menschenverachtend (Reality-Formate bei den Privaten). Aber das jahrzehntelange Dauer-Ärgernis-Thema Wiederholungen scheint Kritiker nicht mehr derart wutentbrannt aus den heimischen TV-Sesseln emporschnellen zu lassen wie dereinst.

Die TV-Sommerpause scheint Zuschauerinnen und Zuschauer nicht mehr so zu empören wie dereinst

Die traditionelle Sommerpause im Fernsehen, ergo: Saure-Gurken-Zeit, ist zuletzt weitgehend ausgefallen: Pandemie, Ukraine-Krieg … Die beitragsfinanzierten Öffentlich-Rechtlichen haben zudem erkannt, wie sie in ihren Mediatheken oder Social-Media-Kanälen die erstausstrahlungsarmen Monate im klassisch-linearen Programm (Dauer-Argumente dafür: Man müsse sparen und im Sommer gebe es wegen des schönen Wetters weniger Zuschauer) überbrücken.

Vor allem: Wiederholungen und Neuauflagen sind ein Erfolg, der gerne befeuert wird. Besondere Zeiten eben. Die „ZDFmediathek“ hat eine prominent angezeigte Rubrik „Retro-Serien und -Filme“. Mit den „Wicherts von nebenan“, unserem Lehrer „Doktor Specht“ und diesen „Drombuschs“. Und für die älteren Semester: „Der Kommissar“.

Es gibt Sender, die seit Jahren erfolgreich auf Bewährtes setzen – „zum Schwelgen in Erinnerungen“, wie Sat.1 Gold einen Teil seines Konzepts erläutert. RTLup bezeichnet sich selbst als „Retro-Sender“ und wirbt: „Entdecke Dein liebstes Kultprogramm aus dem TV überall und jederzeit wieder aufs Neue!“

Laut AGF Videoforschung hatte Sat.1 Gold im April einen Marktanteil von 2,2, RTLup von 2,0 Prozent. Zum Vergleich: Sat.1 hatte 5,1, RTL 7,7 Prozent. Sie lagen nicht weit weg von ProSieben (3,8) und deutlich vor Arte oder dem HR-Fernsehen (beide 1,1).

Irritierend, dass Christoph Körfer, stellvertretender Senderchef von ProSieben und Sat.1-Sprecher auf Anfrage ankündigt, dass „Geh aufs Ganze!“ im zweiten Halbjahr 2022 zu Sat.1 zurückkomme – er gleichwohl lapidar feststellt: „Eine ‚Retro-Welle’ im deutschen Fernsehen sehe ich nicht.“

Medienexperte Kleiner sagt: „Was erfolgreich war, kann auch wieder erfolgreich sein“

Marcus S. Kleiner, Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der privaten Hochschule SRH Berlin University of Applied Sciences, sieht sie sehr wohl. Retro-Wellen, über die er schon in seinem Buch „Deutschland 151“ schrieb, gebe es seit den 70ern. „Pop-Kultur lebt davon, regelmäßig an sich selbst zu erinnern.“ Zum Erfolg der Spartensender sagt er: „Der Content ist ja da – und man hat keine weiteren Kosten mehr damit. Wenn man es böse sagen will: Das ist die Resterampe der Fernsehsender.“

Doch Kleiner meint es gar nicht böse. Er ist in den 80ern mit der US-Serie „Hart aber herzlich“ um Selfmade-Millionär Jonathan Hart, dessen, so der Vorspann, „traumhafter Frau“ und beider mörderischem Hobby, der Verbrecherjagd, aufgewachsen. „Wenn das mal wieder irgendwo läuft, schau ich mir das gerne an. Es ist eine nostalgische Reise in die Vergangenheit.“

„Hart aber herzlich“ läuft auf Sat.1 Gold – und der Erfolg des Retro-TV erklärt sich auch damit, dass sich die Sender schwerer tun, ein jüngeres Publikum zu finden. Auf die „werberelevante Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen“, eine Erfindung des Ex-RTL-Bosses Helmut Thoma, wird zwar nach wie vor geschielt. Sie ist allerdings nicht mehr das Maß der Dinge. Fernsehmacherinnen und -macher haben – die ganz Jungen tummeln sich ohnehin auf Instagram und TikTok – längst Ältere im Blick, Sat.1 Gold beispielsweise „weibliche Zuschauerinnen zwischen 40 und 64 Jahren“.

Man kann mühelos seinen Tag in der Vergangenheit verbringen

So kann man mühelos seinen Tag in der Vergangenheit verbringen. Von morgens bis in die Nacht hinein – bis zur „Tagesschau vor 20 Jahren“ auf tagesschau24. Manchmal, in diesem Zustand zwischen gerade-noch-wach und fast-im-Land-der-Träume, hört man mit geschlossenen Augen dann, dass es mit Le Pen ein Kandidat der extremen Rechten in die Stichwahl um das Amt des französischen Präsidenten schaffte.

Oder, dass der Teamchef der Fußball-Nationalmannschaft das vorläufige Aufgebot für die Fußball-WM bekannt gab. Gestern und Heute verschwimmen, Stoff für Albträume, und erst das Wort „Chirac“ und anderntags „Teamchef“ sowie „deutscher Meister Borussia Dortmund“ lassen einen mit der Gewissheit einschlafen, dass das alles doch Vergangenheit ist.

Und als nächste Neuauflagen "Tutti Frutti" und die „Mini Playback Show“?

Einmal noch zu Harry Wijnvoord, diesem wunderbar aus der Zeit und in die Zeit Gefallenen. Er wünscht sich die „Mini Playback Show“ mit Marijke Amado, auch bereits 68, zurück. Eine RTL-Show, in der Kinder als Popstars verkleidet deren Hits „performten“, wie man heute sagt – und die „als Kulturgut der 90er Jahre“ gelte, wie die Deutsche Presse-Agentur schrieb. Re- und Upcycling kennen keine Grenzen. Oder wie es Professor Kleiner ausdrückt: „Was erfolgreich war, kann auch wieder erfolgreich sein.“

Wobei: Die 90er-Gaga-Nackedei-Show „Tutti Frutti“ würde nicht mehr in unsere Zeit passen:

Ralf, such dir eine Frucht aus! – Die Kiwi. – Die Kiwi, gut. Karen!

Cin cin! Als Südfrüchte kostümierte und tiefdekolletierte Renates oder Angéliques? Eine strippende Xenia aus Griechenland und ein zu Michael Jacksons „Smooth Criminal“ blank ziehender Rolf, seines Zeichens Verwaltungsangestellter aus Köln? Würde nicht mehr passen? Nun, vor nicht mal sechs Jahren gab es eine Neuauflage – mit Jörg Draeger.

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Foto: Jörg Carstensen, dpa
Foto: Jörg Carstensen, dpa

Die Moderatoren Jörg Draeger (rechts) und Alexander Wipprecht lassen sich mit dem "Cin Cin Playboy-Ballett" bei Dreharbeiten zur Erotikgameshow "Tutti Frutti" Anfang 2016 fotografieren.

Und man denkt so bei sich, zufällig ins Finale der 19. Staffel von „Deutschland sucht den Superstar“ geraten: Warum überhaupt Wiederholungen und Neuauflagen? Warum läuft nicht einfach alles immer weiter? An diesem Mittwoch kommt wieder „TV total“:

Sind Sie richtig gut gelaunt?

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