„Wegen Pandemie“ stand auf dem Eilantrag, der Ende März den Umgang mit dem Kindsvater aussetzen sollte. Die Mutter lebt in Bayern, der Vater in Berlin, und außer der beiden Bundesland-Bs und einem Kind haben sie nichts mehr gemeinsam. Sie ist Altenpflegerin in einem Heim, in dem es bereits Corona-Fälle gibt, und argumentierte vor Gericht mit Infektionsrisiken für ihren Haushalt. Doch eigentlich zückte sie eine neue Waffe im Vater-Mutter-Konflikt.
Die Corona-Pandemie wird massiv missbraucht, um den Kontakt des getrennt lebenden Elternteils zum Kind zu verhindern oder zu blockieren, stellen Familienrechtler und Psychologen fest. In manchen Fällen sei wirkliche Sorge der Grund. „Aber es gibt auch viele Fälle, in denen Corona ein willkommener Verbündeter ist und als Waffe gegen den Ex-Partner eingesetzt wird, um den Umgang erst zu erschweren und dann einschlafen zu lassen“, sagt Familienrechtler Jürgen Rudolph aus Koblenz. Er vertritt bundesweit Mandanten, auch den Vater aus dem eingangs erwähnten Beispiel.
Das Problem sei aber nicht geschlechterspezifisch, betont Rudolph immer wieder. Frauen wie Männer zwischen München und Kiel, zwischen Köln und Berlin zückten momentan diese Waffe, das habe er auch von anderen Kollegen und Richtern gehört. Weil Trennungskinder meistens bei den Müttern leben, sind häufig Väter diejenigen, die „wegen Pandemie“ ihr Kind nicht sehen dürfen. Die Leidtragenden immer: minderjährige Jungen und Mädchen.
Der Experte sagt: „Reißt euch zusammen, eure Kinder haben es schon schwer genug.“
Allen Kindern macht zurzeit die häusliche Isolation zu schaffen. Wochenlang die Freunde nicht sehen, Eltern im Homeoffice, Stress durch Enge – alles nicht einfach. Tausende Trennungskinder aber, deren Eltern nicht kooperieren, sind in Corona-Zeiten die doppelten Verlierer: Sie müssen neben ihren Freunden möglicherweise auch auf einen geliebten Elternteil verzichten, weil der andere das so will. Rudolph stellt fest: „Es ist rücksichtslos, den anderen Elternteil aus dem Leben der Kinder zu eliminieren, besonders in diesen Zeiten, in denen der andere Elternteil erst recht gebraucht und vermisst wird.“
In seinen Augen fällt es unter Kindesmisshandlung, wenn ein Kind eine für sein Leben wichtige Person nicht sehen darf und auch nicht anrufen darf, wenn ihm danach ist. „Viele Eltern wollen ihren Kinder nicht schaden, tun es aber trotzdem“, sagt Rudolph. Gerade appelliere er immer wieder an Eltern: „In dieser Situation werdet ihr beide besonders gebraucht. Versucht doch im Sinne eurer Kinder etwas hinzubekommen. Reißt euch zusammen, eure Kinder haben es schon schwer genug.“
Rudolph kennt sich mit den Abgründen in Elternstreitigkeiten aus. Jahrzehntelang hat er als Familienrichter gearbeitet und ab 1992 die erfolgreiche Cochemer Praxis mitentwickelt, mit der zerstrittene Eltern an einen Tisch geholt werden, um zum Wohl des Kindes eine Lösung zu erarbeiten. Seitdem Rudolph die Altersgrenze für das Richteramt überschritten hat, arbeitet er als Anwalt und Dozent für Familienrecht und hat etwa auch Mandanten in Belgien. „Dort ist Corona beim Umgang aber kein Thema“, sagt er. In Belgien sei das Prinzip der Doppelresidenz weit verbreitet, das hierzulande „Wechselmodell“ heißt. Dadurch hätten beide Elternteile die gleichen Rechte.
Es ist nun mal so: Wer den Zugriff auf das Kind hat, der hat die Macht
In Deutschland sei das meistens anders. Rudolph sagt, er habe in jahrelanger Erfahrung den Eindruck gewonnen, dass sehr oft der Elternteil das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind bekommt, der die größten Einschränkungen macht. „Wer den Zugriff auf das Kind hat, der hat die Macht. Wer die Macht hat, der bestimmt das Recht“, sagt Rudolph. Die deutsche Umgangsrealität biete zu viele Möglichkeiten, den Umgang problemlos und sanktionslos zu verhindern und damit das Kind dem anderen Elternteil zu entfremden oder den Elternteil gar aus dem Leben des Kindes zu löschen. In Kalifornien, wo Rudolph seit Jahren an Forschungsprojekten teilnimmt, sei das anders. Der Elternteil, der Probleme macht, bekomme beispielsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen. Die Folge: Eltern kooperieren, sie überbieten sich förmlich dabei, Umgangstermine vorzuschlagen und Kontakt zu ermöglichen.
„Wegen Pandemie“ – dass in Corona-Zeiten hierzulande neue Umgangsprobleme entstehen, sei auch eine Folge dieser Strukturschwäche im deutschen Familienrecht, sagt Rudolph. Manch Elternteil, der ohnehin gegen den Umgang des Kindes mit dem/der Ex ist, wittere da eine Chance, das Kind nicht abzugeben. Das ist auch Professorin Sabine Walper, Forschungsdirektorin des Deutschen Jugendinstituts, und Ute Gagesch von der psychologischen Beratung der Diakonie Augsburg aufgefallen. Sie warnen vor einer unnötigen Zusatzbelastung der Kinder in diesen Zeiten, die nicht nur der Eltern-Kind-Beziehung schade.
Anja Wintermeyer, Psychologin vom Amt für Kinder, Jugend und Familie in Augsburg, sagt: „Der Dauerstress kann auch psychische Schäden, Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten zur Folge haben.“ Je jünger die Kinder, desto schlimmer sei es, wenn sie eine Zeit lang den anderen Elternteil nicht sehen. Weil sie nicht verstehen, was da passiert, weil sie sich nicht mitteilen können, weil sie noch kein Zeitgefühl haben und nicht wissen, wie lange dieser Zustand so bleibt.
Eltern sollten auch mal über den eigenen Schatten springen, zum Wohl des Kindes
Professorin Sabine Walper berichtet noch etwas aus der Praxis: „Da wird etwa signalisiert, der getrennt lebende Elternteil ist gefährlich, da lasse ich dich nicht hin.“ So etwas schüre Ängste und Sorgen, verunsichere die Kinder und erhöhe die Distanz zum anderen Elternteil – Letzteres sei in manchen Fällen auch beabsichtigt und genau das Gegenteil von dem, was Eltern ihren Kindern mitgeben sollten. „Das Wichtigste ist für Kinder emotionale Sicherheit in der Familie, dass es verlässliche Beziehungen gibt und Kinder Ansprache bekommen“, sagt Walper.
Sie appelliert wie Gagesch und Wintermeyer an die elterliche Verantwortung, den Kindern zu helfen, statt ihnen das Leben unnötig schwerer zu machen. „Sehen Sie den anderen Elternteil als Ressource, der ihnen helfen kann“, sagt Walper und rät allen Eltern, die im Moment ihre Kinder nicht treffen können oder dürfen: „Ziehen Sie alle Register in Sachen Medien. Videotelefonie stellt auch etwas Nähe her.“ Kreativ sein, Briefe schreiben, dranbleiben, positive Signale senden, raten die Experten. Und damit die andere Seite die Kontaktversuche auch zulässt: über den eigenen Schatten springen, kooperieren, zum Wohl des Kindes.
Wie viele Kinder und Familien derzeit betroffen sind, kann niemand genau sagen. Die Fälle, die wirklich bei den Beratungsstellen und Psychologen auftauchen, sind laut Experten nur die Spitze eines großen Eisbergs. „Wir werden sehen, was da alles kommt, wenn es sich öffnet“, sagt Ute Gagesch, die mit einer Welle von Beratungsgesprächen rechnet. Bei ihr melden sich bereits verzweifelte Eltern, die sich alleingelassen fühlen und nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen. Verzweiflung etwa auch, weil sie ihr Kind „wegen Corona“ häufiger sehen oder sprechen möchten und der andere Elternteil das nicht zulässt. Oder weil sich der andere „wegen Corona“ beim Umgang rar macht. Einrichtungen, die sonst in solchen Fällen helfen, können im Moment nur am Telefon und online Beratungsgespräche anbieten, wenn überhaupt. Zwei zerstrittene Menschen an einen Tisch zu bringen, ist derzeit nicht möglich.
In der Erziehungsberatungsstelle der Stadt Augsburg sei die Lage noch ruhig, sagt Anja Wintermeyer. Zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen und der bundesweit unterschiedlichen Corona-Verhaltensregeln hätten viele verunsicherte Elternteile angerufen und sich erkundigt, was denn nun gelte. Muss ich den Umgang ermöglichen? Darf ich mein Kind sehen und abholen? Was ist, wenn der Vater meines Kindes in einer WG wohnt? Oder wenn meine Ex mit dem Kind zu einer Familienfeier will? Bei manchen Fragen musste sich das Jugendamt auch erst einmal beim Ministerium erkundigen. Das ist das Komplizierte am Familienrecht. Jede Konstellation ist anders, jeder Fall ist anders, und vieles ist Auslegungssache oder von Bundesland zu Bundesland verschieden.
Inzwischen ist klar: Das Umgangsrecht ist in den meisten Fällen stärker als die Ausgangsbeschränkung. Heißt: Die bestehenden Umgangsregelungen verlieren in Pandemiezeiten nicht ihre Gültigkeit. Hat der Vater ein Umgangsrecht, darf er sein Kind innerhalb Deutschlands abholen, treffen. Das Bundesfamilienministerium empfiehlt Eltern auf seiner Internetseite auch, den Kindern so viel Normalität wie möglich zu ermöglichen und, falls ein Besuch mal ausfällt, dies mit Audio- oder Videotelefonie zu kompensieren. „Wir sind der Auffassung, dass dem Kindeswohl grundsätzlich eine gute emotionale Bindung und der Kontakt zu beiden Eltern dient“, heißt es. Das sehen manche Elternteile offensichtlich anders.
Der Umgang wird erschwert, Telefonate werden gar nicht oder nur selten erlaubt, Kinder abgeschottet – laut Familienrechtler Rudolph Standardprogramm. Eltern, die weit entfernt von ihren Kindern leben, bereiten die Corona-Regeln zusätzliche Schwierigkeiten. Väter oder Mütter im Ausland dürfen gerade nicht nach Deutschland einreisen, um ihre Kinder zu sehen. Andere Umgangseltern berichten davon, dass sie Probleme dabei hatten, ein Hotelzimmer oder eine Ferienwohnung zu buchen. Auch bei Freunden unterzukommen, sei nicht erlaubt. „Um sein Kind sehen zu können, holt der Elternteil es also ab und fährt für ein Wochenende zu sich nach Hause und dann wieder zurück“, weiß Rudolph von seinen Mandanten. Es komme durchaus vor, dass manch Vater oder Mutter an einem Wochenende vier Mal durch Deutschland fahren muss. Das müsste nicht sein, wenn der andere Elternteil kooperieren und die Umgangszeit verlängern würde. Aber wenn der andere nicht will …
…Dann könnten höchstens Gerichte den Elternteil zum Kooperieren zwingen. In der Praxis heißt das etwa: Umgangslisten festlegen, Zwangsgelder anordnen. Die meisten Fälle von coronabedingter Umgangsverletzung landen aber noch gar nicht vor Gericht, sagt Rudolph. Beim Familiengericht in Augsburg gab es noch keinen Anstieg an Anträgen. Doch der wird bald kommen, ist sich die Augsburger Familienrechtsanwältin Annette Bieber sicher. Noch hielten betroffene Elternteile sich mit Anträgen zurück. Täglich bekomme sie aber Anrufe aufgebrachter, verunsicherter Väter, die Fragen haben, die ihrem Unmut, ja, ihrer Wut und Ohnmacht Luft machen. Sie rät allen erst einmal dazu, Ruhe zu bewahren, mit dem/der Ex zu sprechen. „Momentan ist Kommunikation viel, viel wichtiger, als recht zu bekommen vor Gericht“, sagt sie. Drei bis fünf Wochen des Pandemie-Umgangstheaters ließen sie sich gefallen, zumal viele wüssten, dass Familiengerichte, Jugendämter und Beratungsstellen im Moment nur eingeschränkt arbeiten und Rückendeckung geben können. Das werde sich mit der Verlängerung der Corona-Maßnahmen aber ändern, ist sich Annette Bieber sicher.
Wie viele Kinder in Patchwork-Familien leben
Jährlich sind zwischen 120.000 und 135.000 Kinder von der Scheidung ihrer Eltern betroffen.
Knapp 20 Prozent der acht Millionen Familien sind Alleinerziehende, das entspricht 1,5 Millionen Familien.
Jedes sechste minderjährige Kind (16 Prozent, 2,1 Millionen) lebt in dieser Familienform.
Der Anteil alleinerziehender Mütter mit minderjährigem Kind liegt bei 88 Prozent, der der Väter bei 12 Prozent.
15 Prozent der Eltern betreuen auch nach einer Trennung schon jetzt annähernd paritätisch. Quellen: Bundesfamilienministerium/Destatis
Beratungsstellen in der Region: Evangelische Beratungsstelle Augsburg, Tel. 0821/59776-0, www.diakonie-augsburg.de; Katholische Jugendfürsorge (KJF) Erziehungs-, Jugend-, Familienberatung Augsburg, Tel. 0821/ 455410-0, www.kjf-kjh.de/augsburg; AWO Familien- u. Erziehungsberatungsstelle Augsburg, Tel. 0821/ 4505170, www.awo-augsburg.de; Beratungsstelle Kempten, Tel. 0831/23636, bistum-augsburg.de; KJF Erziehungs-, Jugend- und Familienberatungsstelle Kempten, Tel. 0831/52232-0, www.kjf-kinder-jugendhilfe.de. (lea)
Die ersten Kinder nehmen schon Reißaus
Noch etwas ist der Augsburger Rechtsanwältin in Corona-Zeiten aufgefallen: „Für manche Kinder ist der psychische Druck daheim bereits so groß, dass sie nun sogar ausreißen und bei Freunden oder dem anderen Elternteil auftauchen.“ Auch Rudolph kennt solche Fälle. „Es sind meistens die starken Kinder, die so etwas tun“, sagt er. Das Problem sei damit aber nicht gelöst, der Streit gehe weiter.
Die Augsburger Familienrechtlerin Annette Bieber hält es für ein ernstes Problem, dass Eltern die Pandemie ausnutzen wollen, um den Umgang zu verhindern. „Aber ich denke, die Gerichte werden mit der Zeit immer unduldsamer, wenn das weiter so oft missbraucht wird.“ Ihr Kollege Rudolph hat bereits „ein seltenes Muster“ beobachtet: Bundesweit lehnen Gerichte das Argument „Wegen Pandemie“ als Begründung für Umgangsaussetzung ab. So auch im eingangs erwähnten Fall. Da kam sogar die Idee ins Spiel, dass das Kind auch eine Zeit lang beim Vater leben könnte – in Zeiten von Homeschooling ist es schließlich nicht mehr an einen festen Ort gebunden.
Zum Schluss noch eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute zuerst: Alle hier erwähnten Experten kennen auch Fälle, in denen zuvor zerstrittene Eltern in diesen Tagen plötzlich kooperieren. Nicht viele, aber es gibt sie. Die schlechte Nachricht: Jürgen Rudolph, Annette Bieber, Ute Gagesch und Sabine Walper gehen davon aus, dass die Ausgangsbeschränkungen und der psychische Druck sich auch negativ auf bestehende Beziehungen auswirken werden. Sie rechnen mit einer Trennungswelle, mit neuen Scheidungen, neuen Trennungskindern – wegen Pandemie.
Lesen Sie zur Corona-Krise auch:
- Bayern: Diese Lockerungen der Corona-Regeln gelten ab Montag
- Rational-Chef über Corona-Krise: "Wir befürchten, dass Betriebe verschwinden"
- Allgäuer Pfarrer zu Gottesdiensten während Corona: "Ich hoffe, dass nichts passiert"
- Wie viele steckt ein Infizierter an? So hat sich die Reproduktionszahl in Bayern entwickelt