Der Mann versucht noch zu retten, was nicht mehr zu retten ist: An einem Werktag Mitte September, kurz nach 5 Uhr, stürmt der Obdachlose, der sich zur Tatzeit zufällig in der Nähe befindet, in das brennende Bekleidungsgeschäft „Lfdy“. Er greift nach Hosen und Hemden, wirft sie auf die Flammen und hofft, so den Brand ersticken zu können. Ein Video zeigt den ebenso gefährlichen wie verzweifelten Einsatz des 39-Jährigen.
Drei Stunden später, als Polizei und Feuerwehr die Flammen längst gelöscht haben, untersuchen Ermittler das ausgebrannte Geschäft in der Ehrenstraße, einer der bekanntesten Einkaufsstraßen Kölns. Ein Sprengstoffspürhund sucht in dem rußgeschwärzten Gebäude zwischen Glassplittern nach Hinweisen, eine 3D-Kamera zeichnet den Tatort auf.
NRW-Innenminister Herbert Reul spricht von einer „neuen Form der Brutalität“
Seit Monaten rücken Ermittler in den Morgenstunden in Nordrhein-Westfalen, vor allem aber in Köln, immer wieder zu ähnlichen Tatorten aus. Eine Serie von Explosionen hält die Region in Atem.
Nur zwei Tage vor der Explosion vor der „Lfdy“-Filiale detonierte wenige hundert Meter entfernt ein Sprengsatz vor einer Diskothek. Allein in Köln gab es seit Anfang Juni acht Explosionen vor Wohnhäusern und Geschäftsgebäuden; unter anderem in Düsseldorf, Engelskirchen und Solingen geschahen ähnliche Taten. Hinzu kommen Schüsse auf Wohnhäuser mit Maschinenpistolen. Im Juli befreite ein Spezialeinsatzkommando der Polizei zwei Geiseln einer arabischen Großfamilie aus Bochum aus einer Villa in Köln. Dort folterten die Täter sie in einem Keller. Bei dem Anschlag in Solingen starb der Täter durch seinen eigenen Sprengsatz. Unbeteiligte Anwohner wurden bisher nicht ernsthaft verletzt – obwohl dies von den Tätern leichtfertig in Kauf genommen wird.
Mitten in Deutschland scheint ein Drogenkrieg ausgebrochen zu sein. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) spricht von einer „neuen Form der Brutalität“, der Chef der Kölner Kriminalpolizei, Michael Esser, von einer „neuen Dimension der Gewalt im Bereich der organisierten Kriminalität, die es so hier in Deutschland meines Wissens noch nicht gegeben hat“. Es gebe offensichtlich „offene Rechnungen“ im Milieu, die beglichen würden, sagt er.
Die Anschlagsserie hinterlässt schockierte Anwohnerinnen und Anwohner, die sich um ihre Sicherheit sorgen. Sie hinterlässt Sicherheitsbehörden, bei denen die Sorge wächst, dass Drogenbanden aus den Niederlanden auch nach Deutschland expandieren könnten. Spuren in die Niederlande lägen auf der Hand und ließen sich inzwischen belegen, erklärt Kripo-Chef Esser. Ansonsten ist vieles unklar.
Ob die Festnahme die Anschlagsserie nun stoppen wird, ist ungewiss
80 Ermittler in drei Ermittlungsgruppen arbeiten in Köln daran, den Fall-Komplex aufzuklären. Bis vor Kurzem hielt sich ihr Erfolg in Grenzen – bis zum vergangenen Freitag. Am Pariser Flughafen Roissy habe die Polizei eine „Schlüsselfigur“ der Anschlagsserie festnehmen können, teilen da Polizei und Staatsanwaltschaft mit. Der Mann werde verdächtigt, mit einer Drogenlieferung von mindestens 700 Kilogramm Marihuana in Verbindung zu stehen, die mutmaßlich die Auseinandersetzungen zwischen Drogenbanden aus den Niederlanden und Köln ausgelöst haben, heißt es. Ob die Festnahme die Anschlagsserie stoppen wird? Ob sich durch sie erhellen lässt, welche Rolle die sogenannte Mocro-Mafia dabei spielt? Unklar, auch am Montag.
„Mocro-Mafia“: Immer wieder fällt dieser Begriff. Darunter werden Drogenhändler aus dem Nachbarland zusammengefasst, die teils eine marokkanische Herkunft haben. Breiten sie sich in Deutschland aus? Schwappt die Gewalt aus den Niederlanden verstärkt nach Deutschland? Wird sich die Gewalt noch steigern? Werden Explosionen, Maschinenpistolen-Salven, Geiselnahmen, Folter zur brutalen Tagesordnung?
Explosionen vor Hauseingängen nutzen die Drogenbanden oft zur Einschüchterung. Die Anschläge und Geiselnahmen in Köln und Umgebung „zeugen von einer neuen Qualität der Gewalt durch die Drogen-Gangs aus den Niederlanden. Wir haben jetzt die holländische Mafia hier, die jenseits der Grenze bereits die Demokratie untergräbt“, sagt Oliver Huth, NRW-Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. Es klingt zutiefst beunruhigend, erst recht, wenn man weiß, wie weit es in den Niederlanden gekommen ist.
Allein dem Mocro-Boss Ridouan Taghi, der dort im Februar zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, schreibt die Justiz sechs Auftragsmorde und vier Mordversuche zwischen 2015 und 2017 zu. Die Staatsanwaltschaft sprach beim Prozess gegen ihn von einer „gut geölten Killermaschine“. Es war der umfangreichste Mordprozess der niederländischen Geschichte.
In dessen Zentrum stand die Aussage des Kronzeugen Nabil B., der im Gegenzug eine Strafminderung erhielt. Seine Aussage führte zu einer beispiellosen Gewaltwelle, bei der sein Bruder, sein Anwalt und seine Vertrauensperson, der Journalist Peter R. de Vries, ermordet wurden. De Vries wurde 2021 mitten in Amsterdam Opfer der Bluttat, er hatte eben ein TV-Studio verlassen. Ein paar Tage danach starb er in einem Krankenhaus, mit 64. Im Sommer endete der Prozess gegen die Täter vor dem Amsterdamer Strafgericht mit langjährigen Gefängnisstrafen für mehrere Männer. Während des Prozesses schwiegen sie.
Insgesamt schreiben Ermittler der Mocro-Mafia mehr als 70 Auftragsmorde zwischen 2012 und 2023 zu. Selbst der niederländische Ex-Ministerpräsident Mark Rutte und Kronprinzessin Catharina-Amalia wurden von ihr bedroht – offenbar, um führende Köpfe wie Taghi freizupressen. „Die Niederlande werden zum Narco-Staat“, schrieben vor drei Jahren zwei niederländische Kriminalreporter in einem Gastbeitrag für das Magazin Spiegel. Die Unterwelt habe den Journalismus zum Schweigen gebracht, die Drogenkriminellen seien so mächtig, dass sie die Demokratie zerrütten könnten – und die Politik habe in dem für seine liberale Drogenpolitik bekannten Land zu lange nicht hingeschaut.
Politiker und Ermittler beruhigen die Bevölkerung
In Köln versuchen Politiker und Ermittler nun, eine verunsicherte Bevölkerung zu beruhigen und Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. „Eine Entwicklung mit einer Gewaltspirale, einer gefährlichen Gewaltspirale, durch organisierte Kriminalität analog zu den Niederlanden und Belgien ist derzeit in Nordrhein-Westfalen nicht festzustellen“, betont Innenminister Reul. Die Kölner Polizei kündigte an, in den Nachtstunden verstärkt zivile und uniformierte Polizisten in Köln patrouillieren zu lassen, um weitere Anschläge zu verhindern.
Auch mit dem Begriff „Mocro-Mafia“ sind die Ermittler vorsichtig. Es sei zwar ein griffiger Ausdruck, sagt der Kölner Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer, „aber nichts, womit wir strafrechtlich operieren“. Das mag auch daran liegen, dass immer noch nicht klar ist, welche Rolle niederländische Drogenbanden bei der Anschlagsserie genau spielen.
Fest steht: „Kern des Geschehens“ ist mutmaßlich das Verschwinden von 300 Kilogramm Cannabis im Juni aus einer 700-Kilogramm-Lieferung aus den Niederlanden. So erklärte es Oberstaatsanwalt Bremer bei einer Pressekonferenz Ende September. Gelagert worden war das Rauschgift demnach in einer Halle in Hürth, in der Nähe von Köln. Beteiligt an der Milieu-internen Auseinandersetzung sei auch eine „Gruppierung“ aus Köln mit Verbindungen in die Niederlande. Offenbar gehe es darum, die verschwundenen 300 Kilo wieder aufzutreiben oder den Verlust mit Geld zu bezahlen. Es folgten jedenfalls die Geiselnahme und die Sprengstoffserie, offenbar um Druck auf die Diebe auszuüben.
Der Modus Operandi sei vielfach ähnlich, sagt Kripo-Chef Esser. „Man kann sich diese Kriminalitätsform bestellen.“ Zum Beispiel über soziale Netzwerke wie Telegram, heißt es, heuern die Kartelle in den Niederlanden für Beträge um die 500 Euro pro Attentat Handlanger an. Diese bekommen zum Beispiel eine bestimmte Adresse in Köln genannt, reisen für die Tat dorthin, deponieren den Sprengstoff, entzünden ihn und setzen sich wieder in die Niederlande ab. Auftrag erledigt.
Doch ob die sogenannte Mocro-Mafia den Drogen auf eigene Faust hinterherlief und die Explosionsserie startete – oder ob die Kölner Gruppe Leute aus dem niederländischen Drogennetzwerk anheuerte, um herauszufinden, wer das Cannabis gestohlen hat – auch das weiß man nicht. Zumal es noch komplizierter wird: Denn nicht alle Explosionen und Schussabgaben könnten miteinander zusammenhängen. Handelt es sich möglicherweise um zwei oder mehr Tatkomplexe, die untereinander nicht in Verbindung stehen? Die Polizei verfolgt bei manchen Taten Spuren ins Rockermilieu.
Oberstaatsanwalt Bremer beteuert: Man tue „alles Menschenmögliche“, um die beispiellose Serie an Gewalttaten aufzuklären. 13 Festnahmen und 43 Ermittlungsverfahren gegen 33 Verdächtige gibt es mittlerweile. Kripo-Chef Esser ergänzt: „Zur Wahrheit gehört sicher auch, dass die uns bekannten und inhaftierten Täter, aber auch die Geschädigten und Opfer, die um die Hintergründe der Taten vermutlich wissen, möglicherweise einen guten Grund haben, nicht offen mit der Polizei sprechen.“
Wird die in Paris festgenommene „Schlüsselfigur“ mit den Ermittlern sprechen?
Vieles ist unklar, dennoch tobt eine politische Debatte um die Gründe für die Anschlagsserie – vor allem die Teillegalisierung von Cannabis steht dabei im Fokus. Innenminister Reul sagte in einem Interview: „Die Niederlande haben seit den 1980er Jahren eine liberale Drogenpolitik betrieben, mit dem Ergebnis, dass es dort auf den Straßen und Plätzen lauter und gewalttätiger geworden ist.“ Die Legalisierung in Deutschland sei „eine Riesenchance für niederländische Drogenbanden, hier einen ganz neuen Markt zu erschließen.“ Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) widersprach: Die Kritik an seinem Cannabisgesetz sei „absurd, unfair und parteipolitisch getrieben“. Im Gegenteil werde das Gesetz, das den Anbau zu Hause oder in Vereinen erlaubt, dazu führen, den Schwarzmarkt auszutrocknen. „Die Leute werden ihren Bedarf legal im Anbauverein decken können, sie müssen nicht bei einem Mocro-Clan kaufen.“
Ob die in Paris festgenommene „Schlüsselfigur“ mit den Ermittlern sprechen wird und über ihre Verbindungen in die Niederlande auspackt? Unklar auch dies. Wie aus Ermittlerkreisen zu erfahren ist, soll es sich um Samir Ahmed (Name geändert) handeln. Er gilt als einer der Hauptakteure einer Kölner Drogenbande. Ahmed soll die Cannabis-Lieferung gemeinsam mit einem Komplizen geordert und die Lagerhalle in Hürth gemietet haben, um die Drogen dort aufzubewahren, bevor sie gestohlen wurden. Der 22-Jährige hatte sich Ende Juni abgesetzt und war daraufhin zur Fahndung ausgeschrieben worden. Das Verfahren zur Auslieferung hat die Staatsanwaltschaft bereits eingeleitet.
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