Wohin? Manuela K. ist verzweifelt. Im Frauenhaus ist sie vor den Schlägen ihres gewalttätigen Ehemanns zwar vorerst sicher. Doch wie es weitergehen soll, weiß sie nicht. Dabei hatte die Zukunft vor fünf Jahren, bei ihrer Hochzeit ganz in Weiß, noch so strahlend ausgesehen. Ihr Traummann aber entpuppte sich als krankhaft eifersüchtig, zwang sie, ihre Berufsausbildung abzubrechen, verbot ihr alle Kontakte zu Verwandten und Freundinnen. Als Manuela K. zaghaft widersprach, reagierte ihr Mann mit Gewalt. Die ersten Schläge konnte sie noch verzeihen. Sie wollte die Ehe retten, schließlich war sie schwanger. Doch als die Tochter auf die Welt kam, wurde alles nur noch schlimmer. Im Laufe der Jahre wurden die Attacken häufiger und brutaler. Schließlich rettete sich Manuela K. mit ihrer kleinen Tochter in ein Frauenhaus. Dort wird sie aber nicht allzu lange bleiben können. Sie hat die Scheidung eingereicht, will neu anfangen, weit weg von ihrem Noch-Ehemann, der sie weiter bedroht. Doch wovon soll sie leben? Finanziell steht sie vor dem Nichts. Ihre Berufsausbildung hatte sie ja damals abbrechen müssen.
Wohin? Auch Elsbeth A. stellt sich diese Frage. Mit knapp 60 Jahren hat sie gerade eine Krebserkrankung überstanden. Sie ist zwar geheilt, kann aber nicht mehr gut gehen, kommt schnell außer Atem. Einen Arbeitsplatz wird die alleinstehende Frau wohl nicht mehr finden. Ihre Wohnung befindet sich in einem Altbau, im vierten Stock, ohne Aufzug. Die Räume sind schlecht gedämmt, die Heizkosten fressen ihre kleine Rente auf. Wohin?
Familie W. ist mit ihren drei Kindern im Kindergarten- und Schulalter bisher ganz gut über die Runden gekommen, Alexander W. hat als Arbeiter zwar kein großes Einkommen, doch seine Frau Claudia konnte als Aushilfskellnerin regelmäßig etwas dazuverdienen. Doch das kleine Glück der Familie ist zerbrochen, als das älteste der Kinder, der neunjährige Lars, durch eine seltene Stoffwechselerkrankung pflegebedürftig geworden ist. Jetzt müssen die Eltern rund um die Uhr für den kranken Lars da sein, dafür sorgen, dass die anderen beiden Kinder nicht zu kurz kommen, und den Lebensunterhalt verdienen. Dazu kommt, dass die Wohnung nicht für die Pflege des Kindes geeignet ist. Doch das Geld reicht nicht für einen Umzug. Wohin?
Seit 47 Jahren hilft die Kartei der Not schnell und unbürokratisch Menschen wie Manuela K., dem Opfer ehelicher Gewalt. Wie Elsbeth A., der gehbehinderten älteren Frau. Wie Familie W. und dem kranken Lars.
Jetzt geht das Leserhilfswerk der Augsburger Allgemeinen und der Allgäuer Zeitung mit dem guten Werk noch einen ganz großen Schritt weiter: In Augsburg soll das „Ellinor-Holland-Haus“ entstehen – ein Zuhause auf Zeit für alleinerziehende Mütter, behinderte, chronisch kranke und alte Menschen. „Wir wollten der Idee der Stiftung ein dauerhaftes Zuhause geben“, sagt Ellinor Scherer, stellvertretende Kuratoriumsvorsitzende der Kartei der Not. „Mit dem Haus soll die Arbeit der Kartei der Not um ein neues Element bereichert werden“, ergänzt Alexandra Holland, ebenfalls Mitglied im Kuratorium.
Das in Augsburg geplante Gebäude mit rund 30 barrierefreien Wohnungen ist benannt nach Ellinor Holland, der Gründerin der Kartei der Not, der Mutter von Ellinor Scherer und Alexandra Holland. Sie war es, die 1965 das Leserhilfswerk aus der Taufe hob und bis zu ihrem Tod 2010 unermüdlich zu dem machte, was es bis heute ist. Zur oft letzten Hoffnung für all jene, die durch die immer weiter werdenden Maschen des sozialen Netzes fallen. Zur letzten Chance für Menschen, die dringend Hilfe benötigen, von staatlichen Stellen oder Kassen aber nichts zu erwarten haben.
Mal ist es ein spezieller Rollstuhl, der es einem gelähmten Menschen ermöglicht, wieder unter Leute zu kommen, mal ist es eine Beihilfe für ein behindertengerechtes Auto, das einer Familie mit einem behinderten Kind das Leben leichter macht. Die Kartei der Not hilft alten Menschen, die sich mit ihrer winzigen Rente nicht einmal das Heizöl für den Winter leisten können. Manchmal sind es schon kleine Beträge, die Notleidenden neue Hoffnung geben.
Hier sind sie mit ihren Sorgen und Nöten nicht mehr allein
Viele Menschen, die sich an die Kartei der Not wenden, tragen jedoch ein ganzes Bündel von Problemen mit sich herum. Armut, Krankheit, Schicksalsschläge – oft kommt vieles zusammen – so wie bei Manuela K., Elsbeth A. und Familie W.
Fast fünf Jahrzehnte Erfahrung im Kampf gegen Not und Armut, aber auch modernste Erkenntnisse der Sozialarbeit sind nun in das Konzept für das Ellinor-Holland-Haus eingeflossen. Auf einem Grundstück im Augsburger Proviantbachviertel wird eine soziale Einrichtung entstehen, die es in dieser Form bisher noch nirgends gibt.
Das Haus mit Kindertagesstätte, Gemeinschaftsräumen und Erziehungsberatungsstelle ist konzipiert als vorübergehende Heimat für Menschen in Notlagen. Unzählige Fälle, die auf dem Tisch des Leserhilfswerks gelandet sind, haben gezeigt, dass Probleme oft damit zu tun haben, dass eine geeignete Wohnung fehlt, dass ein gedeihliches Umfeld nicht vorhanden ist. Wenn Frauen etwa Opfer von häuslicher Gewalt werden, finden sie Zuflucht im Frauenhaus – wie Manuela K. Doch für viele lautet die bange Frage: „Wohin danach.“ Wie sie stehen sie nicht nur seelisch, sondern auch materiell vor dem Nichts. Zurück nach Hause können sie nicht. Im Ellinor-Holland-Haus finden Notleidende aber weit mehr als ein schützendes Dach über dem Kopf. Hier sind sie mit ihren Sorgen und Nöten nicht mehr allein.
Ein Sozialarbeiter, der „Kümmerer“, soll sie bei ihrem Weg in ein neues, selbstbestimmtes Leben unterstützen. „Es geht aber auch darum, dass sich die Familien gegenseitig unter die Arme greifen“, sagt Susanne Donn, Geschäftsführerin der Stiftung. Das könnte so aussehen: Die vom Krebs geheilte, noch rüstige Elsbeth A. passt auf die Tochter von Manuela K. auf, während die an einer beruflichen Fortbildung teilnimmt. Die junge Mutter greift Elsbeth dafür bei den Einkäufen unter die Arme. Auch die geplagte Familie W. kann im Ellinor-Holland-Haus zur Ruhe kommen. Die Eltern können sich dem kranken Lars widmen, werden bei Pflege, medizinischer Versorgung und Behördengängen unterstützt. Für die beiden jüngeren Geschwister von Lars wird in der angeschlossenen Kindertagesstätte gut gesorgt. Die Familie knüpft Kontakte zu anderen Hausbewohnern und kann sich bei gemeinsamen Freizeitaktivitäten erholen. Zusammen mit dem „Kümmerer“ planen sie ihr künftiges Leben, schöpfen neuen Mut.
Die Wohnzeit im Ellinor-Holland-Haus ist auf ein bis drei Jahre angelegt – danach sollen die Bewohner wieder auf eigenen Beinen stehen können. Nach dem Prinzip „fördern und fordern“ werden dazu entsprechende Zielvereinbarungen getroffen. Sie sollen den Menschen helfen, so weit zu kommen, dass sie wieder ein stabiles Leben führen können. Für Manuela K. wäre das Ziel: Durch eine Therapie neues Selbstvertrauen zu gewinnen, ihre Berufsausbildung abzuschließen und mit der Tochter in ein neues, selbstbestimmtes Leben starten.
Die Familie W. mit dem kranken Kind soll ein neues Gleichgewicht finden – und nach einiger Zeit auch eine bezahlbare, behindertengerechte Wohnung.
Die Ziele für Elsbeth A. hängen von der Entwicklung ihres Gesundheitszustands ab. Erholt sie sich so weit, dass sie wieder in einer normalen Wohnung Fuß fassen kann? Oder benötigt sie auf lange Sicht einen Platz in einer Pflegeeinrichtung? Im Ellinor-Holland-Haus bleibt genügend Zeit, um diese Fragen in Ruhe zu klären.
„Die Miete wird so niedrig sein, dass sie auch bezahlt werden kann, wenn jemand kaum Geld hat oder Sozialhilfe bezieht“, sagt Susanne Donn.
Das Projekt wird aus Mitteln der Stiftung, Fördergeldern, Spenden und einem Kredit finanziert. Bei der Realisierung wird das Kuratorium, das mit dem Vorhaben Neuland betritt, von einem externen, mit Fachleuten besetzten Gremium unterstützt. Derzeit laufen die Planungen für das Haus, die Genehmigung durch die Stadt Augsburg ist bereits erfolgt.
Das Ellinor-Holland-Haus soll Teil der Nachbarschaft werden, die Kindertagesstätte, die zusammen mit einem externen Träger betrieben wird, soll auch Kindern aus der Umgebung offen stehen. Der Standort Augsburg wurde auch deshalb gewählt, weil die Lage in der vergleichsweise anonymen Großstadt für Bewohner aus kleineren Orten der Region wohltuend sein kann. Wer in Not ist, möchte nicht, dass auch noch die Nachbarn mit dem Finger auf ihn zeigen.
Während die Vorbereitung für das Großprojekt auf Hochtouren läuft, geht bei der Kartei selbstverständlich wie gewohnt die Einzelfallhilfe weiter. Unbürokratische und schnelle Hilfe wird die Kartei der Not Bedürftigen auch in Zukunft bieten. Sie ist und bleibt Schwerpunkt der Tätigkeit. „Nur haben wir künftig zusätzlich die Möglichkeit, einige Fälle über die akut notwendige Hilfe hinaus zu begleiten“, sagt Geschäftsführerin Susanne Donn. Für Menschen wie Manuela K., Elsbeth A. und Manuela W. wird es künftig eine Antwort geben auf die bange Frage nach dem Wohin: ins Ellinor-Holland-Haus.