Es ist ein Tag in den Dolomiten wie aus dem Bilderbuch. Etwas warm vielleicht, aber auf über 3000 Metern Höhe ist das beinahe angenehm. Der Himmel über dem italienischen Trentino ist an jenem verhängnisvollen Sonntag tiefblau. Hunderte Bergliebhaber und Alpinisten haben sich entschlossen, am Wochenende die „Königin der Dolomiten“, die Marmolata, zu besteigen. Es ist eine hochalpine Gletschertour, nichts für Anfänger. Man braucht Steigeisen, Pickel und eine Klettersteigausrüstung. Die meisten Alpinisten werden heil von ihrem Gipfelerlebnis zurückkommen. Für viele andere wird der Sonntag zu einem Unglücks-Tag.
Die Schreckens-Bilanz am Montagabend lautet: sieben Tote, acht Verletzte und 13 Vermisste. Das erklärte der Regionalpräsident von Trentino-Südtirol, Maurizio Fugatti, am Montag in Canazei am Fuße des Berges Marmolata. Unter den Überlebenden sind auch zwei Deutsche, eine 58 Jahre alte Frau sowie ein 67-jähriger Mann, die in eine Klinik in der Provinz Belluno gebracht wurden.
Für die Vermissten gibt es laut Bergrettung hingegen kaum Hoffnung. Die Wucht der Lawine sei zu gewaltig gewesen, heißt es aus der Rettungszentrale in Canazei im Trentino. Hier trafen am Montag Angehörige der Vermissten ein. Am Montag reiste auch der italienische Ministerpräsident Mario Draghi nach Canazei, um sich über den Stand der Bergungsarbeiten zu informieren.
Schmelzwasser unterhalb der Gletschermassive löste die Katastrophe in den Dolomiten aus
Das Unglück geschieht am Sonntag gegen 14 Uhr, die Juli-Sonne brennt auf den Gletscher auf der Grenze zwischen Trentino und Veneto. Zehn Grad werden an diesem Tag am Gipfel der Marmolata gemessen, ein Wärmerekord. Seit Wochen ist es auch in Norditalien außergewöhnlich heiß. Was deshalb unterhalb der Gletschermassive passiert, wissen zwar Experten. Die Alpinisten vom Wochenende, unter ihnen auch ein paar erfahrene Bergführer, sehen es nicht. Schmelzwasser hat die sogenannten séracs, Türme aus Gletschereis, an der Auflagestelle zum Gestein brüchig gemacht. Deshalb, so sind sich Gletscherwissenschaftler und Rettungskräfte einig, kommt es zur Katastrophe.
Augenzeugen berichten von einem enormen Knall, „wie das Donnern eines Düsenflugzeugs“, sagt einer. Eine enorme Lawine aus Gletschereis, Schnee, Gestein und Geröll bricht sich mit 300 km/h Bahn. Fast 1500 Meter weit stürzen Eis und Geröll in die Tiefe. Mindestens zwei Seilschaften befinden sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg zum Penia-Gipfel auf 3343 Metern, die Bergsteiger sind miteinander an Seilen verbunden. Die Lawine erfasst sie. Die meisten Überlebenden, von denen die italienische Bergwacht einige am Sonntag per Hubschrauber birgt, sollen allein vom Luftzug des abgebrochenen Gletschers erfasst und verletzt worden sein.
Wegen des schönen Wetters waren viele Menschen am Marmolata-Gipfel unterwegs
Die Italienerin Elisa Dalvit stand mit ihrer Seilschaft oberhalb der Lawine. „Wir haben einen Donner gehört“, berichtet sie. „Die Eismassen haben drei Menschen unterhalb von uns mit sich gerissen. Ich weiß nicht, wieviele Menschen da unten noch waren, der Berg war voller Seilschaften. Ich habe auch ein Kind mit zwei Erwachsenen gesehen. Bitte sagt mir, dass es lebt!“ Nach dem Donner habe sie eine riesige Wolke gesehen, die Lawine sei mit „brutaler Kraft“ zu Tal gerast. Als Dalvit nach oben blickte, sah sie die Abbruchstelle. „Sie war azurblau“, sagt die schockierte Alpinistin ungläubig.
„Ich habe schon viel in den Bergen erlebt“, sagt ein weiterer italienischer Augenzeuge, Mauro Baldessari. „Aber so etwas habe ich noch nicht gesehen.“ Die Lawine sei 200 Meter breit gewesen, auch er will mindestens drei Personen gesehen haben, die erfasst wurden. Ein weiteres Bergsteiger-Paar berichtet vom Moment des Unglücks: „Wir haben uns fest umarmt und gehofft, verschont zu bleiben.“ Wegen des wunderbaren Wetters sei der Marmolata-Gipfel gerammelt voll gewesen. Nach dem Unglück sperrten die Sicherheitskräfte das Massiv und evakuierten den Gletscher.
Die Suche nach Vermissten gestaltet sich laut der Bergwacht schwierig
Den Rettern bietet sich bereits am Sonntagnachmittag ein desaströses Bild. Die Wucht der Lawine aus Eis und Geröll hat zerstörerische Wirkung. „Auf einer Länge von über 1000 Metern fanden wir verstümmelte Überreste“, berichtet ein Mitglied der Bergwacht. Die zwischen Eis- und Felsblöcken aufgeriebenen Leichenreste seien „ein echter Schock“, sagt Luigi Felicetti, ebenfalls Mitglied der Bergwacht. „So etwas habe ich in all diesen Jahren noch nicht gesehen“, fügt er hinzu. Sechs Helikopter der Bergwacht sind am Sonntag im Einsatz. Sieben Hundestaffeln suchen nach Überlebenden. 60 Hilfskräfte sind vor Ort, sie verwenden Drohnen mit Wärmekameras und Lawinensuchgeräte. Doch die Suche nach Vermissten und Bergung von Überresten gestaltet sich schwierig.
Am Sonntagabend werden die Bergungsarbeiten vorläufig gestoppt, da neue Gletscherabbrüche drohen und die Helfer in Gefahr sind. Am Montagvormittag wird wegen des schlechten Wetters auch die Suche mit Drohnen vorläufig eingestellt. 16 Autos stehen am Montag noch verwaist auf dem Parkplatz, an dem der Aufstieg beginnt. Die Polizei versucht die Halter der Fahrzeuge ausfindig zu machen. Einige könnten zu den 15 Vermissten gehören.
Der menschengemachte Klimawandel wird von Beobachtern als Auslöser für die Gletscherschmelze vermutet
Die Staatsanwaltschaft Trento hat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und prüft, ob auch menschliches Versagen ein Grund für die Katastrophe sein könnte. Etwa, ob die Sperrung des Gletschers wegen der klimatischen Bedingungen fahrlässig unterlassen wurde. Dabei steht das menschliche Versagen – in einem weiteren Sinn – wohl außer Zweifel. Sämtliche Beobachter machen den vom Menschen verursachten Klimawandel und seine Folgen für die Gletscherschmelze und damit auch für die Marmolata-Katastrophe verantwortlich.
Carlo Budel zum Beispiel, Betreiber der Punto-Penia-Berghütte am Gletscher, hat das Unglück zwar nicht kommen sehen, aber die Folgen der ungewöhnlichen Hitze dieser Wochen aus nächster Nähe beobachtet. „Es gab kaum Schnee diesen Winter“, sagt der Hütten-Wirt. Der Gletscher habe deshalb im Juni schon ausgesehen wie sonst im Spätsommer. Ohne den nötigen Schnee prallt die Sonne direkt auf das Eis. „Ich habe gesehen, wie sich Sturzbäche von Schmelzwasser ihren Weg durch den Gletscher gebahnt haben“, sagt Budel.
Die für die Jahreszeit ungewöhnliche Schmelze hat auch Folgen für den Permafrost, den von den Wetterbedingungen weniger abhängigen und ständig gefrorenen Untergrund des Gletschers. „Der Permafrost hält Gestein und Erde normalerweise stabil“, sagt Maurizio Dellantonio, Chef der italienischen Bergwacht. „Aber unter solchen Klimabedingungen gibt auch er nach.“ Das habe Folgen für den Alpinismus, auch für Experten. „Nie zuvor war in den Bergen allerhöchste Vorsicht geboten“, sagt Dellantonio. Ist es also gewissermaßen fahrlässig, im heißen Sommer 2022 Gletscher zu besteigen?
Bergsteiger-Legende Reinhold Messner kritisiert die Besteiger des Marmalota-Gipfels
Die Südtiroler Bergsteiger-Legende Reinhold Messner geht hart mit den Marmolata-Besteigern ins Gericht. „Zu dieser Jahreszeit läuft ein guter Alpinist nicht unterhalb solcher Gletscher-Türme“, postuliert er, der selbst schon viele Dramen in den Bergen erlebt hat. „Die Kunst des Bergsteigens besteht darin“, so Messner, „nicht ums Leben zu kommen in Zonen, wo das an und für sich möglich ist“. Der Extrembergsteiger hat seine eigene Sicht auf den Alpinismus und seine Gefahren. Er hat alle 14 Achttausender ohne Sauerstoff bestiegen, die Marmolata mit ihren 3343 Metern am Penia-Gipfel ist eine andere Größenordnung.
Aber vielleicht ist gerade ihre Zugänglichkeit für die meisten Alpinisten das Problem. Fehlt der Respekt, für die Natur und ihre Verletzlichkeit? Die hiesigen Gletscher sind vom Klimawandel geschunden, das meint auch Messner. „Die Gletscher schmelzen wegen der Erderwärmung. Wenn dann wie jetzt Eistürme abbrechen, dann können das Massen sein, die so groß wie Wolkenkratzer sind“, sagt er. Wegen der Hitze geschehe das derzeit überall in den Alpen.
Wissenschaftler warnen wegen der Erderwärmung vor einem extremen Rückgang der Gletscheroberflächen
Seit Jahren zeichnet die Wissenschaft düstere Szenarien, zumal wenn es um Gletscher wie den der Marmolata geht. Um drei Quadratkilometer geht die Oberfläche der in Italien liegenden Gletscher pro Jahr zurück. Allein im Aosta-Tal, wo sich ein Drittel der italienischen Gletscher befinden, verschwanden in den vergangenen 20 Jahren 32 Gletscher. Laut Prognosen werden bis zum Jahr 2100 70 Prozent der Gletscher in den italienischen Alpen schmelzen, das ist die Berechnung im günstigsten Fall. „Im schlimmsten Fall werden es 96 Prozent sein“, sagt der italienische Glaziologe Renato Colucci vom staatlichen Wissenschaftsrat CNR. Der Gletscherwissenschaftler sieht für Gletscher wie die Marmolata wegen der Erderwärmung schwarz: „Unterhalb von 3500 Metern wird in den nächsten 20 Jahren nichts bleiben“, sagt er. Gletscher wie die Marmolata seien „völlig aus dem Gleichgewicht geraten“.