Herr Blume, Ihr neues Buch heißt „10 Dinge, die ich an der Schule hasse“. Wenn Sie so viel hassen, warum sind Sie dann noch Lehrer?
Bob Blume: Ich glaube, ich kann diesen metaphorischen Hass überhaupt nur deshalb haben, weil ich Lehrer bin. Wenn ich sagen würde, ich lasse das alles hinter mir und steige aus, dann bräuchte mich ja Schule nicht mehr beschäftigen. Ich finde ganz viele Dinge problematisch oder schlichtweg falsch an Schule – weil ich unheimlich leidenschaftlich Lehrer bin und weil ich der Auffassung bin, dass sich Dinge verändern sollten. Man muss dazusagen, dass tatsächlich viele gute Lehrer und Schulleitungen die Schulen verlassen – weil sie versucht haben, Veränderungen anzustoßen, aber das Schulsystem sie ausgebremst hat.
Woran liegt das?
Blume: Oftmals ist das Problem, dass theoretisch ein Anspruch an Schule gestellt wird, den man aber in der Praxis nicht umsetzen kann. „Sorgt dafür, dass die Schülerinnen und Schüler eine vertiefte Lernerfahrung haben“, das ist so ein Anspruch – ein empirisch als sinnvoll bewiesener Anspruch. Wenn ich aber vertieftes Lernen ermöglichen würde, würde das gleichzeitig bedeuten, dass ich mit den Inhalten, die im Lehrplan stehen, nicht durchkomme. Also muss ich mich oft entscheiden: Will ich dafür sorgen, dass die Kinder die Sachen auch wirklich verstehen – oder dass sie mit dem Stoff durchkommen? Allein schon vor den Eltern wäre es natürlich nicht durchsetzbar, wenn man sagen würde: "Hey, die Schüler haben supergut gelernt, aber wir sind nur bei Kapitel eins." Also betreiben Lehrkräfte ein produktives Durchgeeier. Das kann nicht systemisch sinnvoll sein.
Wer bei Google die Frage „Warum ist Unterricht …“ eingibt, bekommt zur Vervollständigung „so langweilig“ vorgeschlagen. Fasst das aus Schülersicht das größte Problem an Schule zusammen?
Blume: Das glaube ich schon. Da wird ein Defizit offenbar. Man sollte den Schülerinnen und Schülern erklären: "Warum machen wir diesen Stoff?" Natürlich könnte ich als Lehrkraft die Autoritätskarte ziehen und sagen: "Wir machen das, weil ich es sage." Aber das ist kein Argument. Es gibt eben faktische Inhalte, die wichtig sind, auch wenn sie nicht sofort als nützlich erkannt werden. Das muss man den Schülerinnen und Schülern verdeutlichen. Geschichte ist das beste Beispiel dafür. Eine gewisse Prozentzahl junger Menschen weiß nicht, was der Holocaust war. Dieses Wissen ist aber fundamental für das Fortbestehen unserer Demokratie. Auch wenn ich verstehe, dass man in der achten Klasse vielleicht denkt: "Ich habe jetzt keine Lust, über Imperialismus nachzudenken, ich will viel lieber Fifa spielen."
Zwei Ihrer Kritikpunkte lauten: Stoff steht über allem. Und: Der Unterricht ist erstarrt. Hängt Schule immer noch in der Kreidezeit fest?
Blume: Jein. Es verändert sich sehr viel. Es ist nur so, dass diese Veränderungen aus meiner Sicht immer ein Mehr sind und nie ein Weniger. Wenn man sich zum Beispiel den bayerischen Bildungsplan durchliest, was natürlich nicht vergnügungssteuerpflichtig ist, dann liest sich das wahnsinnig innovativ. Da ist etwa die Rede von der unbedingten Wichtigkeit der Demokratieerziehung. Von Bildung für nachhaltige Entwicklung, von Medienbildung. Das sind Ziele, deren Sinn würde ich sofort unterschreiben. Aber dann muss man auch sagen: Wo machen wir jetzt die Abstriche? Man muss sehen, wie man die Dinge verbinden kann. Lyrik zum Beispiel, ein deutsches Kulturgut. Aber müssen wir da eine Arbeit drüber schreiben? Lassen wir die Arbeit doch weg und gucken, was stattdessen jetzt an zeitgemäßen Lernformen im Deutschunterricht implementiert werden muss und wie wir so auch die Medienbildung hinbekommen.
Sie schreiben, dass die Lehrerausbildung das Falsche prüfe – und dass schlechte Lehrer es zu leicht hätten. Gibt es in Deutschland also nicht nur einen Lehrermangel, sondern auch zu viele schlechte Lehrkräfte?
Blume: So einfach kann man das nicht sagen. Ich habe damit vor allem eine These herausgearbeitet: Viele würden ja gerne, aber wir können halt einfach nicht mehr. Und einige haben es dann zu leicht, nicht mitzumachen. Das belastet die Willigen, die dann wieder mehr machen. Das daraus resultierende Nicht-mehr-Können liegt eben an systemischen Defiziten, die sich theoretisch verändern lassen würden.
Sie sind Blogger, Influencer, gelten als einer der innovativsten Lehrer bei digitaler Bildung. In Ihrem Buch schreiben Sie aber, die Sache mit der Digitalisierung werde an Schulen oft falsch verstanden. Was meinen Sie damit?
Blume: Ich könnte in einer digital perfekt ausgestatteten Schule – mit Glasfaser, mit iPads, mit Whiteboards, allem, was das Herz begehrt – Unterricht machen wir 1950. Unterricht, der nur lehrerzentriert ist. Danach gibt es einen Test, der perfekt abgeprüft werden kann. Digital natürlich, sodass ich als Lehrkraft nur auf einen Knopf drücken muss und sofort wird die Note gemacht. Aber ich glaube, das kann keiner wollen. Die Frage ist eher, wie man es schafft, dass Kinder zu einem glücklichen, produktiven Teil der Gemeinschaft werden. Das klappt nicht, wenn sie passiv irgendwo sitzen. Das Digitale hat aber das Potenzial dazu. Man sollte überlegen: Wie lernen Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert am besten?
Und zu welchem Ergebnis kommt man dann?
Blume: Nehmen wir nochmal das Beispiel Fifa spielen. Angenommen, es kommt ein neues Fifa-Spiel für die Playstation auf den Markt. Schüler probieren das aus, werden besser. Wenn sie nicht weiterkommen, gucken sie sich ein Tutorial im Internet an, wenn das Tutorial nicht gut genug ist, dann schreiben sie einem Freund und fragen nach einem Geheimtipp. Oder sie suchen auf Social Media oder auf Reddit. Dann probieren sie es weiter. Kurz zusammengefasst: Sie lernen. So, wie man im 21. Jahrhundert eben lernt. Mit unterschiedlichen Kanälen, die zeitlich und räumlich völlig unabhängig abgerufen werden können. Diese Art des Lernens ist es, die in der Schule auch zusätzlich ein Potenzial eröffnet.
Haben Sie ein Beispiel, wie Sie dieses Fifa-Prinzip anwenden, Lernen über die unterschiedlichsten Kanäle?
Blume: Ich bin eigentlich nicht der, der sich hinstellt und sagt: So müsst ihr das machen. Da gibt es natürlich ganz verschiedene Möglichkeiten. In meiner zehnten Klasse ging es kürzlich um Obdachlosigkeit in den USA. Die Schüler sollten auf Englisch Fragen an Obdachlose formulieren. Das ist natürlich eine Kompetenz. Aber irgendwie ist es auch ein bisschen langweilig, keine Antworten zu erhalten. Also sollten sich die Schüler auf TikTok und Youtube Videos und Aussagen von Obdachlosen über deren Situation suchen – und eine Frage formulieren, auf die das eben Gesehene die Antwort ist. Das war dann wie ein Live-Interview.
Spannend, haben Sie noch eins?
Blume: Ich habe mit meinen Schülern das Prinzip des Second Screen genutzt. Wir haben gemeinsam die kontroverse Talkshow „Die letzte Instanz“ geschaut, die Schüler haben sie währenddessen digital kommentiert und wir haben dann diese Live-Kommentare als Basis dafür genommen, einen Kommentar über die Sendung zu schreiben. Das ist übrigens alles Bildungsplan-konform.
Sie fordern, dass Schüler Schule auch mal übernehmen sollten. Das klingt nach einer grauenvollen Vorstellung für alteingesessene Lehrkräfte, die seit 30 Jahren denselben Unterricht machen. Wie kann das funktionieren?
Blume: Ich beschreibe mal einfach einen ganz konkreten Prozess. Ich habe eine Medien-AG, in der sind wir sehr frei. Wir machen zum Beispiel gerade einen Podcast, aber wir haben auch ein Projekt entwickelt: Deine Idee für die Schule. Da konnten alle, die Lust hatten, eine Idee einbringen, um die Schule schöner zu machen. Den vielfachen Wunsch, einen eigenen Dönerladen zu bauen, mussten wir leider ablehnen. Aber vieles andere haben wir dann mithilfe eines Kuchenverkaufs und mit Geld aus dem Verkauf der Schülerzeitung versucht umzusetzen. Das wiederum hat dazu geführt, dass es jetzt Hygieneartikel für Mädchen in den Schultoiletten gibt. Oder Sitzsäcke, die man sich ausleihen kann. Das zeigt: die Ideen von Schülern können eine Wirkung entfalten. Schüler sind nun mal der wichtigste Bestandteil der Schule. Deshalb finde ich es wichtig, dass jede Schule sich Gedanken darüber macht, wie die jungen Leute eingebunden werden können, damit sie sich nicht wie das fünfte Rad am Wagen fühlen oder, eigentlich noch schlimmer, wie diejenigen, die überhaupt nichts zu sagen haben.
Zur Person Bob Blume unterrichtet Deutsch, Englisch und Geschichte am Gymnasium Bühl bei Baden-Baden. Als „Netzlehrer“ hat er zehntausende Follower. Sein Buchdebüt heißt „10 Dinge, die ich an der Schule hasse – und wie wir sie ändern können“. Es erscheint im Mosaik-Verlag.