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Deutschlands teuerste Radbrücke: 16 Mio. Euro für Fußbodenheizung und mehr

Verkehr

Das 16-Millionen-Euro-Ding: In Tübingen wurde Deutschlands teuerste Radbrücke gebaut

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    Die neue Radbrücke in Tübingen sticht mit ihrem leuchtend blauen Belag ins Auge.
    Die neue Radbrücke in Tübingen sticht mit ihrem leuchtend blauen Belag ins Auge. Foto: Universitätsstadt Tübingen, dpa

    Mit ihren E-Bikes strampeln die beiden Frauen die neue Radbrücke nach oben. Plötzlich bleibt die eine stehen: „Du, mach doch schnell ein Foto von mir mit dem Schloss im Hintergrund. Das schicke ich meiner Tochter.“ Die beiden sind nicht die Einzigen, die hoch über den Gleisen kurz verweilen und das Handy zücken. Auf der gegenüberliegenden Seite ist ein Selfie mit Blick auf die Bahngleise in Arbeit. Tübingen hat ein neues Fotomotiv: Deutschlands längste und teuerste Radbrücke. Schon optisch ein Bauwerk der Superlative: 365 Meter lang, mit blauem Belag und Fußbodenheizung für den Winter. Das Symbol einer anderen Verkehrspolitik.

    In Tübingen sind die Radfahrer begeistert. Doch das 16-Millionen-Euro-Bauwerk bringt der Stadt und ihrem parteilosen Oberbürgermeister Boris Palmer nicht nur Lob und Anerkennung ein, sondern auch Häme und Kritik. „Boris Palmer eröffnet Tübingens teuerste Radbrücke“ titelte die Bild-Zeitung süffisant. Das Bauwerk schaffte es in die Medien der Republik, oft mit dem Unterton: Darf man wirklich so viel Geld für Radfahrer ausgeben?

    Die Universitätsstadt hat in diesem Jahr das Radverkehrskonzept 2030 auf den Weg gebracht. Das Ziel: ein lückenloses Radwegenetz. Als zentrale Achse gibt es schon heute ein „blaues Band“ auf 1,5 Kilometern Länge mit vier Meter breiten Radwegen. Zum Konzept gehören vier Radbrücken – darunter auch das gerade eröffnete 16-Millionen-Bauwerk. Das schlängelt sich mit maximal sechs Prozent Steigung bis auf eine Höhe von zehn Metern über den Bahngleisen und sticht mit leuchtend blauem Belag ins Auge. Die Brücke fügt sich nahtlos in den neu gestalteten Bahnhofsbereich mit Fahrrad-Tiefgarage und dem – natürlich blauen – Fahrradweg. Dazu gibt es einen der ersten Kreisverkehre in Deutschland exklusiv für Radfahrer. Die Radbrücke West ist die markanteste der vier Radbrücken des „blauen Bands“, jenen zentralen Rad-Achsen aus dem Tübinger Radverkehrskonzept.

    6000 Menschen radeln an einem Tag über die neue Brücke

    Im unmittelbaren Umfeld der jetzt fertiggestellten Radbrücke ist viel Radler-Potenzial: Sie verbindet die südlichen Stadtteile mit rund 3500 Arbeitsplätzen bei Landratsamt, Regierungspräsidium, Polizei und der Zentrale der Kreissparkasse mit den nördlich gelegenen. Ein Steinwurf von der Brücke entfernt gibt es drei Gymnasien mit mehr als 2500 Schülern. Das alles ist jetzt kreuzungs- und autofrei zu erreichen, als Dreingabe winkt ein freier Blick aufs Schloss und Teile der Stadt. Wer Richtung Norden geradeaus weiterfährt, erreicht über einen Fuß- und Radtunnel die Altstadt. Für Radpendler mit größerem Radius geht es von dort aus zu den Unikliniken und den auf dem Berg gelegenen Uni-Gebäuden.

    Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer will die Stadt fahrradfreundlich machen.
    Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer will die Stadt fahrradfreundlich machen. Foto: Christoph Schmidt, dpa

    Die ersten Zahlen geben der Stadt recht. Bereits kurz nach der Eröffnung Ende Oktober wurden innerhalb eines Tages 2135 Radler auf der Brücke gezählt. Den Kreisverkehr passierten 3614 Fahrradfahrer. Am 5. November verkündete Palmer mit 6000 Radlern einen neuen Rekord. „Das sind Zahlen, die wir früher nur an heißen Freibadtagen hatten.“ Passiert ist auf und an der Brücke offenbar auch noch nichts. „Uns sind keine Unfälle bekannt“, meldete das städtische Presseamt zuletzt.

    Ob und wie viel in einer Stadt Fahrrad gefahren wird, hängt von vielerlei Faktoren ab: Der Topografie, sicheren Radwegen und der Frage, wie radfreundlich die Stadt wahrgenommen wird. Tübingen ist hügelig, trotzdem sind auf den Hauptachsen der Studentenstadt täglich 5000 bis 10.000 Radfahrer unterwegs, betont Palmer. Aus der Erhebung „Mobilität in Städten“ geht hervor, dass 2013 nur 18 Prozent der Strecken dort auf dem Rad zurückgelegt wurden, 2018 waren es bereits 27 Prozent. Die nächsten Ergebnisse gibt es 2025.

    Bis 2035 könnte der Anteil der Radfahrer verdreifacht werden

    Vor allem in Großstädten und Ballungszentren müht man sich, mehr Menschen zum Umstieg zu bewegen. Aus Zahlen des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) geht hervor, dass derzeit nur rund 13 Prozent aller Fahrten unter 30 Kilometern mit dem Rad zurückgelegt werden. Der Anteil des Fahrrads am Individualverkehr könnte demnach aber bis zum Jahr 2035 verdreifacht werden – vorausgesetzt, die Menschen steigen gerne aufs Rad. Ein mangelndes Sicherheitsgefühl halte derzeit viele ab, heißt es beim ADFC. Und für mehr Sicherheit brauche es unter anderem eine bessere Infrastruktur.

    Bei denen, die in Tübingen die neue Radbrücke nutzen, ist die Begeisterung groß. „Ich fahre jetzt doppelt so gerne zur Arbeit“, sagt Landratsamts-Mitarbeiterin Sylvia Minde. Sie hat es von ihrer Wohnung in der Altstadt nicht wirklich weit zur Arbeit, findet die neue Brücke aber sehr viel schöner zu fahren. Vorher musste sie sich mit geschlossenen Bahnschranken, Ampeln und Autos herumärgern. Das falle jetzt alles weg. Der alte Radweg entlang der Bundesstraße sei außerdem im Winter weder gestreut noch geräumt worden. „Ich bin im letzten Winter drei Wochen lang Bus gefahren.“ Ihre Kollegin Lydia Reinert sagt: „Die neue Brücke spart mir fünf Minuten. Außerdem ist es viel angenehmer und ich fühle mich auch sicherer.“

    Ein anderer Pendler kommt mit seinem Lastenrad aus einem Dorf Richtung Reutlingen und spart jetzt Zeit, weil Ampeln und eine Unterführung wegfallen. Sein Weg zur Arbeit sei außerdem neuerdings „architektonisch ein Highlight. Auch nachts.“ Die Brücke ist im Dunkeln dezent beleuchtet. Johannes Untraut, Radverkehrskoordinator beim Landratsamt, hört bisher nur Gutes. Fahrräder spielten im Behördenzentrum eine große Rolle – denn Parkplätze sind ein knappes Gut. Doch kaum hat sich der rosa Disconebel gelegt, durch den die Polit-Prominenz bei der Freigabe der Brücke geradelt war, melden sich die Kritiker. Aufreger Nummer eins: die Kosten. Das Magazin Focus lästert genüsslich, dass Palmer im ZDF-Talk bei Markus Lanz ein 40-Millionen-Loch im städtischen Haushalt verkündet und gleichzeitig seine millionenschwere Radbrücke feiert. In den sozialen Medien kommt es noch dicker: „Besser kann man Steuergelder nicht verschwenden“, mault ein Facebook-Schreiber und greift zur großen Keule: „Währenddessen müssen unsere Rentner im Müll nach Pfandflaschen wühlen.“ Ein anderer meint lapidar: „Man hätte das Geld besser für die Sanierung von Straßen ausgeben können.“

    Fünf Millionen Euro sollte die Brücke ursprünglich kosten

    Palmer hält dagegen, denn es ist mitnichten so, dass die Stadt die Brücke komplett aus dem eigenen Etat gezahlt hätte. Drei Viertel der Kosten tragen Bund und Land, die Stadt übernimmt 4,5 Millionen Euro. Allerdings zeigte sich auch in Tübingen mal wieder die Krux der Großprojekte. Fünf Millionen Euro sollte die Brücke ursprünglich kosten. Beim Baubeschluss waren es bereits elf Millionen. Und jetzt, nach Fertigstellung, sind es 16 Millionen. Was die Kostenkritiker am meisten empört: Das blaue Band für Radler hat eine eingebaute Heizung, die, mit Ökostrom betrieben, bei Temperaturen ab drei Grad dafür sorgt, dass weder Regen noch Nebel die Brücke zur Rutschpartie werden lassen.

    Was das kostet? 300.000 Euro sagte der OB am Eröffnungstag dem SWR. Unserer Redaktion nannte die städtische Pressestelle auf mehrmaliges Nachfragen eine andere Zahl: rund 670.000 Euro brutto – vorbehaltlich der Schlussabrechnung, die noch ausstehe. Bei den laufenden Kosten hat Tübingen bereits mit zwei weiteren Radbrücken Erfahrung, die mit einer Flächenheizung ausgerüstet wurden. „Die Kosten des Heizbetriebs sind gegenüber den Baukosten gering“, sagt die Stadt. Der Verzicht auf Streusalz verlängere die Lebensdauer der Brücke um die Hälfte.

    Aufreger Nummer zwei: das Verbot für Fußgänger. Anders als S-Pedelecs und E-Scooter dürfen Fußgänger und auch Rollstuhlfahrer die neue Brücke nämlich – juristisch betrachtet – nicht benutzen. Ein mit blauem Schild gekennzeichneter Fahrradweg ist ein Radweg und damit für Fußgänger verboten. Das Thema erhitzt die Gemüter und sorgt für Diskussionen in Seniorensportgruppen und in Kaffeerunden, füllt die Leserbriefspalten der örtlichen Lokalzeitung und befeuert die sozialen Medien. Allerdings hat der OB versprochen, keine Stadtsheriffs gegen Fußgänger in Stellung zu bringen.

    Boris Palmer lässt Kritik an sich abperlen. „Es gibt keine Kritik vieler Fußgänger, weil die Brücke für diese kaum einen Nutzen hätte“, sagt er unserer Redaktion. Die Wege zwischen relevanten Zielen seien schlicht zu weit. Überdies sei die Entscheidung, die Brücke als reine Radbrücke zu bauen, weit im Vorfeld gefallen. Allerdings war die Entscheidung im Tübinger Gemeinderat 2019 nicht unumstritten. Mit 22 Stimmen lehnten es AL/Grüne und SPD ab, die Brücke fußgängertauglich zu machen. 16 Rätinnen und Räte von CDU, FDP, der Tübinger Liste und der „Fraktion“ folgten dagegen einem Antrag der Linken, die Brücke auf 5,55 Meter zu verbreitern. Palmer schätzt, dass die Stadt für eine breitere Brücke sieben Millionen Euro hätte zahlen müssen. (mit sok)

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    4 Kommentare
    Friedrich Behrendt

    kein Wunder das Tübingen total Pleite ist ! wenn die Radfahrer auch steuern zahlen müssten wäre ja alles in Ordnung

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    Ulrich Haendel

    Lieber Friedrich, sind Radfahrer etwas von der Steuer befreit?

    Franz Xanter

    Steuergelder lassen sich wunderbar verprassen; jedes Jahr kann man es im Schwarzbuch nachlesen. Und (bisher) wird niemand dafür in Regress genommen. Muss sich da nicht bald etwas ändern?

    Gerold Rainer

    Ein ständig quertreibender Bürgermeister, wollte sich unbedingt ein spektakuläres Denkmal setzen. Seine rücksichtslose Kompromissunfähigkeit brachte ihm den Rausschmiss bei den Grünen ein und das muss man erst mal schaffen. Mit zwei Aufzügen wäre das Bauwerk auch für Fußgänger und Rollstuhlfahrer nutzbar gewesen, dann hätte es eben keine ideologisch gewollte Radfahrer- Raserstrecke mehr gegeben. Diese Aufrüstung hätte den stolzen Baupreis auch nur mehr noch um maximal 3% nach oben getrieben.

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