Nährstoffe sind überlebenswichtig für den Körper – da ist sich die Wissenschaft einig. Trotzdem gibt es rund um das Thema noch viel Unwissenheit. Manchmal fehlen wissenschaftliche Daten, in anderen Fällen führt die Fokussierung auf Risiken zu Ängsten in der Bevölkerung – so auch beim Thema Vitamin D. Wir haben mit Nephrologin und Stoffwechselexpertin Helena Orfanos-Boeckel gesprochen und sie gefragt, welche Nebenwirkungen bei Vitamin D auftreten können.
Grundwissen zu Vitamin D: Diese Formen sollten Sie kennen
Auf Nahrungsergänzungsmitteln steht manchmal Vitamin D3, manchmal nur Vitamin D. Meistens ist die gleiche Form gemeint, chemisch gibt es aber Unterschiede.
Vitamin D besteht aus mehreren Verbindungen, darunter die Formen D1, D2, D3, D4 und D5. Für unseren Stoffwechsel ist vor allem Vitamin D3 relevant. Der Vitamin-D-Stoffwechsel ist jedoch komplex. Nephrologin Helena Orfanos-Boeckel erklärt im Interview drei wichtige Formen:
- Vorstufe (Vitamin D3, Cholecalciferol): Wird über die Nahrung aufgenommen oder über die UVB-Sonneneinstrahlung in der Haut aus einer Vorstufe von Cholesterin hergestellt.
- 25-OH-D (Calcidiol): Das modulierende Vitamin D-Speicherhormon, das meistens im Blut gemessen wird, um den Vitamin-D-Status zu bestimmen.
- 1,25-(OH)2-D (Calcitriol): Das aktive Vitamin D-Hormon, welches hauptsächlich in den Nieren aus Calcidiol gebildet wird.
In ihrem Ratgeber „Nährstofftherapie“ erläutert Helena Orfanos-Boeckel die drei verschiedenen Formen von Vitamin D näher. Je nach Begriff ist in den Medien meist eine andere Vitamin-D-Verbindung gemeint. Hier der Überblick:
- Vitamin-D-Therapie: Gemeint ist laut der Ärztin meist das Vor-Vitamin-D Cholecalciferol.
- Vitamin-D-Mangel: Gemeint ist der Blutspiegel, also Calcidiol (25-OH-VD).
- Warnung vor Vitamin D: „Wenn jemand warnt und aufschreit beim Thema ‚Vitamin D‘, ist das Calcitriol zwar nicht immer gemeint, so wäre es korrekt“, schreibt sie in ihrem Ratgeber, da 1,25-OH-D die Vitamin-D-Form ist, die in hohen Mengen besonders schnell Calcium aus den Knochen freisetzen kann.
Sie kritisiert, dass viele den Begriff Vitamin D pauschal verwenden, ohne die verschiedenen Formen zu differenzieren. „Das bringt Verwirrung und Verunsicherung – in der Medizin, in der Wissenschaft (...) und bei Patientinnen und Patienten“, sagt sie. Die verschiedenen Formen von Vitamin D spielen demnach unterschiedliche Rollen im Körper. Während die Speicherform (25-OH-D) weitgehend unkritisch ist, kann die aktive Form (1,25-(OH)2-D) bei einer zu schnellen Umwandlung aus Calcidiol für den Stoffwechsel problematisch werden, da sie unnatürlich viel Calcium aus den Knochen freisetzt.
Warum der Begriff „Nebenwirkung“ in Zusammenhang mit Vitamin D nicht korrekt ist
Vitamin D ist nicht nur ein Nährstoff, sondern ein Steroidhormon, das vom Körper selbst hergestellt werden kann. Deshalb erklärt die Expertin:
„Das Wort Nebenwirkung ist einfach für Vitamin D falsch. (…) Nebenwirkungen gelten eigentlich nur für körperfremde Substanzen.“
Dr. med Helena Orfanos-Boeckel, Nephrologin und Stoffwechselexpertin
Aus ihrer Sicht gibt es bei einer sachgerechten Anwendung keine klassischen Nebenwirkungen bei der Einnahme von Vitamin D. Nebenwirkungen beziehen sich streng genommen auf Effekte körperfremder Substanzen, die zusätzlich zum gewünschten Effekt auftreten – wie bei klassischen Medikamenten.
Bei zu viel Vitamin D sollte von einer Überdosierung gesprochen werden. Dauerhaft sehr hohe Dosierungen (> 50.000 Einheiten täglich) können möglicherweise zu unerwünschten Wirkungen führen. Laut der Ärztin liegt das Problem dabei nicht primär am hohen Calcidiol-Spiegel, sondern an einem zu hohen Calcitriol-Spiegel im Verhältnis zu Calcidiol. Dies kann zu einem erhöhten Calciumspiegel im Blut führen. Ein Calcidiol-Wert von 150 ng/ml ist unproblematisch, solange Calcitriol und der Calciumspiegel im Blut im normalen Bereich liegen.
Diese Symptome können bei langfristig zu viel Vitamin D auftreten
Ein zu hoher Calciumspiegel (> 2,7 mmol/l) kann auf Zellebene schädlich sein und potenziell Zellen zerstören. Laut Orfanos-Boeckel ist dies nur bei extremen Fehldosierungen von Vitamin D ein Problem. Das Robert Koch-Institut (RKI) nennt folgende Symptome bei erhöhtem Calciumspiegel:
- Übelkeit
- Appetitlosigkeit
- Bauchkrämpfe
- Erbrechen
In akuten Fällen kann es bei Hyperkalzämie zu Nierenschäden und Herzrhythmusstörungen kommen – im Extremfall sogar zum Tod. „Da Vitamin D im Körper gespeichert werden kann, ist neben einer akuten auch eine schleichende Überdosierung möglich“, schreibt das RKI.
Orfanos-Boeckel hingegen wäre es lieber, es würde mehr auf die negativen Folgen eines Mangels oder einer Unterversorgung eingegangen, als hauptsächlich vor Risiken einer Vitamin-D-Therapie zu warnen. Dieses ganze Drama um Vitamin D verunsichert die Menschen und das bedauere ich. Es geht bei dem Zuviel gar nicht um D, sondern um das Calcium – und das bleibt sehr lange stabil. Man muss schon wirklich richtig viel falsch machen, bis da ein Problem entsteht.“
Ab welcher Dosierung können unerwünschte Wirkungen bei Vitamin D auftreten?
„Jeder Mensch hat seine eigene Vitamin-D-Schuhgröße. Was für den einen passt, kann für den anderen zu wenig oder zu viel sein“, sagt uns die Ärztin. Sie erklärt, dass es schwierig sei, allgemeine Empfehlungen zu geben, da der Nährstoffbedarf – insbesondere bei Vitamin D – stark individuell ist. Die benötigte Menge hängt von Faktoren wie Hautfarbe, Lebensstil und genetischer Veranlagung ab. Auch der Wohnort spielt eine entscheidende Rolle, da der UV-Index bei der Bildung von Vitamin D wichtig ist. Im Frühling und Herbst ist bis zu einer Stunde Sonne nötig, um genügend Vitamin D zu bilden. Im Winter ist es hierzulande für dunkle Hauttypen wiederum nicht möglich genügend Vitamin D zu produzieren. Es mache deshalb keinen Sinn, pauschal eine individuelle Dosis zu empfehlen.
In ihrer Praxis würden die meisten eher gesunden normalgewichtigen mittelalten Patientinnen und Patienten mit hellerem Hauttyp im Schnitt 4000 IE bis 5000 IE täglich brauchen, um optimale Blutwerte zu haben. Die therapeutische Breite gehe aber von 1000 IE bis knapp 20.000 IE täglich, erklärt Helena Orfanos-Boeckel. Zum Vergleich: Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung gibt einen Tagesbedarf von 800 IE an. Die Europäische Lebensmittelbehörde (EFSA) gibt einen tolerierbaren Grenzwert von 4000 IE für Erwachsene an, da bis zu dieser Menge auch langfristig keine negativen gesundheitlichen Folgen zu erwarten sind. Orfanos-Boeckel plädiert dafür, die Blutwerte prüfen zu lassen. „Man kann eine sichere und wirksame Nährstofftherapie nicht ohne Laborwerte machen. Das ist so, als würde ich von Ihnen verlangen, Blutdruck einzustellen, ohne den Blutdruck zu messen.“
Wichtig ist bei höheren Dosierungen von mehr als 5000 IE Vitamin D (Cholecalciferol) täglich auch den Bedarf an Vitamin D-Cofaktoren Magnesium, Calcium, Bor und Vitamin K2 auszumessen. Der Hauptgrund für eine zu schnelle Umwandlung von Calcidiol in Calcitriol ist meist ein unbehandelter Calcium- und Magnesiumbedarf.
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