Zum Beispiel Giovanna. Am vergangenen Dienstag wurde die Seniorin 100 Jahre alt. Sie ist damit eine der jüngsten in der immer größer werdenden Gemeinde der 100-Jährigen in Italien. Das ganz persönliche Jahrhundert der Seniorin begann im kleinen Bressanvido, gelegen zwischen Verona und Padua. Ihr Weg führte Giovanna mit 27 Jahren nach Venezuela, in Italien hatte sie eine bittere Liebesenttäuschung hinter sich. 1967 kam sie zurück, heiratete dann drei Jahre später ihren Pietro und zog dessen beide Kinder mit auf. 2011, mit 87 Jahren, ging sie ins nicht weit von ihrem Geburtsort entfernte Altenheim. „Nach einem Leben voller Verpflichtungen und Beziehungen“, schrieb jetzt das Lokalblatt Padova Oggi.
Die 100-Jährigen werden immer mehr. In Italien ist die Altersgruppe in den vergangenen zehn Jahren um 30 Prozent gewachsen. Zu Beginn des Jahres 2024 gab es zwischen Brenner und Sizilien rund 22.500 100-Jährige oder Ältere. Angesichts des Alterns der Bevölkerung in Europa und den Möglichkeiten der heutigen Medizin ist das eigentlich kein Wunder. Doch in Italien mit seinen rund 59 Millionen Einwohnern scheint der Zuwachs besonders groß zu sein. Deutschland (84,5 Millionen Einwohner) hatte 2021 laut Statistischem Bundesamt gerade einmal 23.500 Über-100-Jährige, in Österreich (neun Millionen) waren es nur 1677 im Jahr 2022. Über die Gründe sagt Roberto Bernabei, Vorsitzender des Vereins für Langlebigkeit in Italien: „Natürlich hat das mit gesundem Lebensstil und Genetik zu tun, aber die Hundertjährigen sind in gewisser Hinsicht auch ein Rätsel.“
In Italien gibt es fast eine Million Menschen im Alter von 90 oder mehr
Bernabei zufolge handelt es sich um die Altersgruppe in Italien, die am stärksten wächst. Einer Prognose, die 2009 in der Zeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde, können 50 Prozent der Menschen, die um das Jahr 2000 geboren sind, damit rechnen, 100 Jahre alt zu werden. „Es passiert gerade etwas noch nie Dagewesenes in der Menschheitsgeschichte“, sagt Bernabei der Zeitung La Reppublica. „Sehr viele derjenigen, die heute um die 60 Jahre alt sind, haben noch 30 Jahre Leben vor sich. Wir müssen darüber nachdenken, wie sie diese Zeit füllen können.“ In Italien gibt es 14 Millionen Menschen mit über 65 Jahren und fast eine Million Menschen im Alter von 90 oder mehr. „Das ist fast noch beeindruckender als das Wachstum der 100-Jährigen“, stellt Bernabei fest. Immerhin 30 Prozent der Über-100-Jährigen sind weitgehend selbstständig.
Wohlstand, Medizin und Genetik sind die naheliegendsten Faktoren für Langlebigkeit. „Wenn man nicht den richtigen Lebensstil hat, kann man krank werden“, wendet Niccolò Marchionni ein. Er ist Präsident der italienischen Gesellschaft für geriatrische Kardiologie. Immer wieder ist in Zusammenhang mit der Langlebigkeit von sogenannten „Blauen Zonen“ die Rede. Damit sind Gegenden auf der Welt gemeint, in denen besonders viele sehr alte Menschen leben. Dazu zählen die italienische Insel Sardinien, die griechische Insel Ikaria, die kalifornische Stadt Loma Linda, die Halbinsel Nicoya in Costa Rica sowie die südjapanische Insel Okinawa. Marchionni zufolge hat das Leben der Senioren aus den fünf blauen Zonen Folgendes gemeinsam: „Wenig Stress, eine sehr enthaltsame Ernährung, Leben in Familie und Gemeinschaft sowie eine mäßige, aber ständige körperliche Aktivität.“
Acht von zehn Über-100-Jährigen in Italien und andernorts sind Frauen
Die Turiner Journalistin und Politikerin Lidia Ravera hat vergangenes Jahr ein Buch mit dem Titel „Age Pride“ geschrieben, frei übersetzt „Stolz des Alters“. Der Untertitel ist Programm, er lautet: „Wie wir uns von den Vorurteilen des Alters befreien können.“ Die 73-Jährige meint, die Gesellschaft müsse sich der Möglichkeiten des Senioren-Lebens bewusst werden. „Wir sind aktiv, wir haben in den 70er Jahren die gesellschaftlichen Regeln verändert, jetzt dürfen wir uns nicht verstecken, sondern eine aufregende, neue Lebensphase genießen.“ Die Älteren seien in der Mehrheit und verdienten deshalb auch mehr politischen Einfluss. Acht von zehn Über-100-Jährigen in Italien und andernorts sind übrigens Frauen. „Wir Frauen müssen aufhören, uns zu schämen und uns jünger zu machen als wir sind“, sagt Raveras. Gut zu altern sei eine Kunst.
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