Chinas führende Finanzmetropole befindet sich gegenwärtig nicht nur in einem flächendeckenden Lockdown – sie hat sich auch zu einer primitiven Tauschwirtschaft zurückentwickelt. In sozialen Medien berichtet etwa eine Fondsmanagerin zynisch, dass sie gerade die Transaktion mit der höchsten Rendite in ihrer bisherigen Karriere getätigt habe: Mit einer Nachbarin habe sie zwei Tüten Chips gegen vier Limonaden, einen Kohl, Erdbeeren und Oolong-Tee getauscht.
Fast alle der mehr als 26 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner Shanghais – eine der weltweit größten Metropolen – befinden sich im Lockdown. Manche seit einigen Tagen, andere seit über zwei Wochen.
Und die Ausgangssperren werden bestehen bleiben: Der Lockdown wurde auf „unbestimmte Zeit“ verlängert. Vize-Parteichef Gu Honghui sprach am Dienstag von einem „Wettrennen gegen die Zeit“. Erst müssten die Massentests vom Vortag, ihre Überprüfung sowie der Transport der Infizierten in Quarantäne abgeschlossen werden, bevor über die weitere Richtung der Kontrollmaßnahmen entschieden werde. Die Lage sei „sehr akut“.
Wer sich mit dem Coronavirus ansteckt, wird in Isolationszentren gebracht
Trotz Lockdown steigen die Corona-Zahlen. Zuletzt meldeten die Behörden 13.354 Infektionen in Shanghai, das sind rund drei Viertel der landesweiten Fälle. Am Sonntag waren es noch 8226 Infektionen im gesamten Stadtgebiet – die allermeisten von ihnen wurden als „asymptomatisch“ gelistet.
Aufgrund Chinas rigider Null-Covid-Strategie dürfen die Menschen derzeit nur zum Massentest kurz auf die Straße, ansonsten müssen sie in ihren Apartmentanlagen bleiben. Wer sich mit dem Virus ansteckt, wird in Isolationszentren gebracht, wo tausende Infizierte in unterkühlten Hangar-Hallen ausharren. Mehr als spartanische Betten, tägliche Essensausgaben und ein paar „Heilkräuter“ werden ihnen dort nicht geboten.
Auch im Rest der Bevölkerung muss der Lockdown als staatlich angeordnetes Ohnmachtsgefühl empfunden werden – denn die Versorgung mit dem Allernötigsten hängt von Lieferpaketen der Regierung ab. Diese kommen jedoch nicht überall ausreichend an.
„Wir wollen essen!“, rufen wütende Anwohner einer Shanghaier Wohnanlage
„Es ist Tag 16 von unserem Lockdown in Shanghai und Essen ist das derzeit Wichtigste in den Köpfen der Menschen“, berichtet Jared Nelson, der in der ostchinesischen Finanzmetropole als Anwalt arbeitet. Auf seinem Twitter-Account schreibt er über seine Alltagsprobleme: Liefer-Apps seien die einzige Möglichkeit, um an Gemüse oder Fleisch zu kommen.
Doch die Online-Dienste seien heillos überlastet: „Gestern bin ich um 6 Uhr morgens aufgestanden, um eine Bestellung aufzugeben – aber nichts war verfügbar. Heute bislang dasselbe Resultat.“ Mit der Situation sind auch die hochprivilegierten Anwohnerinnen und Anwohner der wohlhabenden Schichten konfrontiert: Auch Menschen mit sechsstelligem Jahresgehalt sorgen sich über zur Neige gehende Essensvorräte.
Es kursieren im Internet zunehmend Videos, in denen sich der angestaute Frust entlädt
Andere hingegen berichten – voller Dank gegenüber der Lokalregierung – in sozialen Medien von frisch gelieferten Essensrationen: Karotten, Tomaten, manchmal auch Meeresfrüchte sowie Fleisch.
Zugleich kursieren im Internet zunehmend Videos, in denen sich der angestaute Frust entlädt: „Wir wollen essen!“, rufen etwa wütende Anwohner einer Shanghaier Wohnanlage. Die Aufnahme, mit dem Smartphone gefilmt, löschten Zensoren schnell wieder. Im Netz findet sich auch eine Behördennotiz, in der vor Lebensmittelvergiftungen gewarnt wird. Zuvor hatten einige Anwohner in Shanghai Pflanzen entlang von Verkehrsstraßen geerntet – offenbar in der fälschlichen Annahme, dass es sich um Lauch handele.
Die offiziellen Corona-Daten bilden wohl nur einen Teil der Wahrheit ab
Erstmals seit den chaotischen Tagen des Lockdowns in Wuhan 2020, wo das Coronavirus Ende 2019 entdeckt wurde, zeichnet sich zudem abermals ab, dass die offiziellen Corona-Daten wohl nur einen Teil der Wahrheit abbilden. Wie eine Recherche des Wall Street Journal ergab, haben sich etliche Mitarbeitende und Senioren in einem Shanghaier Altenheim mit dem Virus angesteckt – Zeugenaussagen zufolge gab es mehrere Tote, die in Leichensäcken abtransportiert wurden. In den offiziellen Statistiken tauchen sie nicht auf.
Für den größten Aufschrei aber sorgten Videoaufnahmen aus einem Covid-Krankenhaus für Kinder: Darin sind etliche Babys in Gitterbetten zu sehen, die vom Personal in weißen Schutzanzügen umhergeschoben werden. Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete, sollen mehrere Familien unter Zwang von ihren infizierten Kindern getrennt worden sein. In einem Fall sei das Neugeborene keine 60 Tage alt gewesen. Der französische Generalkonsul forderte – stellvertretend für die EU-Mitgliedstaaten – die chinesische Regierung dazu auf, diese grausame Praxis zu beenden.
Dass es eine generelle Lockerung der strikten Anti-Corona-Maßnahmen auf absehbare Zeit nicht geben werde, kündigte sich schon am Samstag an – als Chinas Vize-Premierministerin Sun Chunlan Shanghai besuchte. Und sagte, man werde „unbeirrt“ an der Null-Covid-Strategie festhalten. Sie erwarte „rasche“ Maßnahmen, um das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu bringen.