Am Montagabend, als Augenzeugen und Angehörige in Schock, Verzweiflung und Trauer verharren und einige Politiker bereits eilig eine perfide Kampagne in Gang setzen, kehrt der Horror noch einmal zurück: Die Polizei von Nashville veröffentlicht einen beklemmenden Zusammenschnitt von Aufnahmen mehrerer Überwachungskameras der Covenant-Grundschule. In der waren Stunden zuvor sechs Menschen erschossen worden.
Joe Biden: "Müssen mehr tun, um unsere Schulen zu schützen"
Das Video zeigt, wie kurz nach 10 Uhr ein silberner Kleinwagen auf den Parkplatz der presbyterianischen Privatschule in einem wohlhabenden Viertel der Hauptstadt des US-Bundestaats Tennessee fährt und einparkt. Der Himmel blau, die Kirschbäume in voller Blüte. Kurz darauf zerbirst im Kugelhagel eine Glastür in dem grauen Steingebäude, das eine Kirche und die Unterrichtsräume beherbergt. Eine Person in gefleckten Armeehosen, mit schwarzer Weste und roter Baseball-Kappe auf dem Kopf läuft mit einem halbautomatischen Sturmgewehr im Anschlag den Flur entlang. Minuten später sind drei neunjährige Kinder und drei Lehrkräfte, darunter die Schulleiterin, tot. In einem Feuergefecht mit der Polizei, die nach 14 Minuten am Tatort ist, wird auch die mit insgesamt zwei Sturmgewehren und einer Pistole bewaffnete Person erschossen.
Das sind die Fakten der 131. Massenschießerei in den USA seit Jahresbeginn. Wie jedes Mal herrscht im Land Fassungslosigkeit und Entsetzen. Politiker – in diesem Fall der örtliche Abgeordnete Andrew Ogles – versichern in eiligen Stellungnahmen, sie seien "in Gedanken und Gebeten bei den Familien, die einen Verlust erlitten haben". Im Weißen Haus in Washington ruft Präsident Joe Biden eindringlich dazu auf: "Wir müssen mehr tun, um unsere Schulen zu schützen!"
Republikaner stellen sich Verschärfung des Waffenrechts entgegen
Tatsächlich sind Schießereien beziehungsweise Waffengebrauch Todesursache Nummer eins bei Kindern in den USA, noch vor Verkehrsunfällen. Erneut drängte Biden nun auf die Verabschiedung eines Verbots von Schnellfeuergewehren, die in vielen Bundesstaaten problemlos erworben werden können. Doch jeder substantiellen Verschärfung des Waffenrechts stellen sich regelmäßig die Republikaner im Kongress entgegen. Sie argumentieren: Zum Schutz von Schülerinnen und Schülern müssten die Lehrkräfte bewaffnet werden. Der Abgeordnete Ogles, ein Republikaner, hatte noch zum Weihnachtsfest 2021 mit seiner bis an die Zähne bewaffneten Familie stolz vor dem Christbaum für einen Online-Post posiert.
Der Widerstand der Republikaner gegen wirksame Waffengesetze ist nicht neu. Doch angesichts des jüngsten Massakers wittern Vertreterinnen und Vertreter des rechten Parteiflügels offenbar die Chance, die Debatte auf ein anderes Feld umzuleiten und zum Kulturkampf gegen LGBTQ-Personen zu nutzen. Noch während die Polizei offiziell von einer 28-jährigen Täterin sprach, tauchte im Netz das Gerücht auf, die Person, die in Nashville die Schule stürmte, habe sich als Mann bezeichnet. Als Beleg diente der Screenshot eines LinkedIn-Accounts, auf dem Audrey H. die Pronomen "he/him", also "er/ihn", wählte. "Wie viele Hormone wie Testosteron und Medikamente für psychische Erkrankung hat der Schütze von Nashville wohl genommen?", twitterte die rechtsextreme Abgeordnete Marjorie Taylor Greene. "Alle können mal aufhören, die Waffen verantwortlich zu machen."
Die rechten Kulturkämpfer in den USA haben ihr Thema gefunden
Auf Nachfrage eines Reporters bestätigte Nashvilles Polizeichef John Drake, Audrey H. habe sich als Transgender bezeichnet. So werden Menschen genannt, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das bei ihrer Geburt dokumentiert wurde. Offenbar hatte Audrey H. vor zwei Jahrzehnten die Covenant-Schule besucht. Drake deutete an, dass aus dieser Zeit eine mögliche Verbitterung herrühren könne. Die Ermittler werten nun Material aus, das Aufschluss über das Motiv geben soll. "Wir haben ein Manifest, wir haben einige Schriften, die sich auf diesen Tag, diesen Vorfall beziehen, und die wir auswerten", sagte Drake.
Die rechten Kulturkämpfer in den USA aber haben ihr Thema gefunden. "Wenn es stimmt, dass ein Trans-Schütze eine christliche Schule angegriffen hat, dann müssen die Linken schwer in sich gehen", forderte J.D. Vance, der republikanische Senator von Ohio: "Diesen Ideen nachzugeben, ist kein Mitgefühl. Es ist gefährlich." Wenig später kündigte die Moderatorin Laura Ingraham beim rechten Sender Fox News ihre Abendsendung an. Das Logo zeigte ein Foto des mutmaßlichen Täters. Darunter stand in fetten roten Buchstaben: "Ein Trans-Killer".