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Bergamo fünf Jahre nach Corona: Trauma, Solidarität und der Neuanfang

Fünf Jahre Pandemie

Als das Militär in Bergamo die Corona-Leichen abtransportieren musste

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    Giacomo Angelini ist für den Friedhof zuständig. Er hatte die Idee, das Militär um Hilfe zu bitten.
    Giacomo Angelini ist für den Friedhof zuständig. Er hatte die Idee, das Militär um Hilfe zu bitten. Foto: Julius Müller-Meiningen

    Die Sonne drängt, drückt, glänzend belästigt sie das Auge. Aber sie kommt an diesem Morgen einfach nicht richtig durch in Bergamo. Der lombardische Nebel, dieser Vorhang, der irgendwie schützt und gleichzeitig bedrückt, ist stärker. Bei gutem Willen könnte man von einem Gleichstand sprechen zwischen Licht und Dunkel, hier oben in der Città alta, der über der Po-Ebene gelegenen Altstadt von Bergamo. Hat schon was, dieses gleißende Licht, gebrochen im dunstigen Vorhang. Und es passt irgendwie zum Grundzustand dieser Stadt, die auch fünf Jahre nach der Corona-Pandemie noch ihre Wunden leckt, aber gleichzeitig aufgebrochen sein will in eine blendende Zukunft.

    Man tut also die ersten Schritte hier und ist gleich verliebt in ein Italien wie aus dem Bilderbuch. Eine alte Vespa knattert über das Kopfsteinpflaster, stößt typisch südlichen Benzingestank wie aus dem vergangenen Jahrhundert aus. Etwas weiter bohrt ein Presslufthammer, penetrantes Symbol für Umbruch und Neuanfang. Natürlich trällert der Arbeiter in seiner neongelben Kluft ein Lied. Es dauert nicht mehr lange, dann wabert Küchengeruch durch die Gassen. Wahrscheinlich Polenta taragna oder Casoncelli, eine Art köstlich gefüllter Ravioli, die kulinarischen Markenzeichen der Provinz. Unruhe kommt auch von unten, vom Flughafen Orio al Serio her, dem drittgrößten Italiens nach Rom und Mailand. Das schöne, lässige Bergamo, 120.000 Einwohnerinnen und Einwohner, wird bei Touristen aus aller Welt immer beliebter.

    Bilder von Särgen gingen vor fünf Jahren um die Welt.
    Bilder von Särgen gingen vor fünf Jahren um die Welt. Foto: Claudio Furlan/dpa/LaPresse via ZUMA Press

    Auch vor fünf Jahren blickte die Welt auf diesen besonderen Flecken. Der Grund war ein vollkommen anderer: das Corona-Virus, das sich in Bergamo früher und, weil völlig unterschätzt, auch schneller als anderswo ausbreitete. Unvergessen sind die schockierenden Bilder des Militärkonvois, der im Morgengrauen die Leichen in Krematorien außerhalb der Stadt transportierte. In Bergamo gab es keinen Platz mehr. „Am 8. März wussten wir nicht mehr, wohin mit den Toten“, erzählt Giacomo Angelini, damaliger und heutiger Assessor der Stadtverwaltung für den Friedhof. 25 Leichen stauten sich regelrecht an jenem Tag in der Leichenhalle, wo normalerweise vielleicht ein einziger Toter aufbewahrt wird. „In den kommenden Tagen wurde es immer schlimmer, wir nutzten die Kirche als Aufbewahrungsort“, sagt Angelini. 200 Särge lagerten später hier. Die Kapazität des örtlichen Krematoriums: 24 Körper pro Tag.

    Am 18. März 2020 verließ der erste Militär-Konvoi den Friedhof in Richtung Modena

    Angelini steht am Rand der Zone B1 auf dem Friedhof im Nebel. Hier wurden Bergamos Covid-Tote begraben, auf den Grabsteinen liest man die Sterbedaten, März, April, Mai 2020. Die meisten Angehörigen jedoch verlangten – auch wegen der irrtümlich angenommenen Ansteckungsgefahr, die von den Toten ausgehe – eine Urnenbeisetzung. So kam es zum Stau. „Wir mussten andere Krematorien anfragen“, berichtet der 43-Jährige. Bologna, Modena, Florenz, Padua und andere Gemeinden gaben grünes Licht. Nun stellte sich die Frage des Transports. Angelini, der beim Erdbeben von L‘Aquila 2009 für die Caritas vor Ort war, erinnerte sich an die damaligen Leichentransporte durch das Militär.

    „So kam mir diese Idee“, sagt er. Angelini informierte Bergamos damaligen Bürgermeister Giorgio Gori. Der fragte über den kurzen Dienstweg bei seinem ehemaligen Bürgermeisterkollegen aus der Nachbarstadt Lodi, dem damaligen Verteidigungsminister Lorenzo Guerini, an. Am 18. März verließ der erste Militär-Konvoi den Monumental-Friedhof in Richtung Modena. Ein in der Via Borgo Palazzo wohnender Ryanair-Stewart wunderte sich über den Lkw-Lärm, ging auf den Balkon und schoss ein ikonisch gewordenes Foto dieses ersten Konvois. Über Instagram gelangte es in die Öffentlichkeit. „Das Foto war ein Wendepunkt“, sagt Giacomo Angelini. „Es zeigt den Moment, in dem Italien und die ganze Welt realisierte, was hier passierte.“ Der Stewart bekam panische Nachfragen aus Kolumbien, Indonesien, Angelini aus den USA.

    Rund 6000 Tote in der gleichnamigen Provinz, davon etwa 3000 in der Stadt: So lautet die Covid-Bilanz in Bergamo. „Wir hatten mehr Beerdigungen während der Pandemie als im gesamten Zweiten Weltkrieg“, erklärt Angelini. Der 18. März, der Tag des ersten Militär-Konvois, wurde zum offiziellen Gedenktag an die Covid-Toten. Insgesamt transportierte das Heer etwa 600 Leichen in 15 Transporten, jede Kremation dokumentierte die Friedhofsverwaltung detailliert. Angelini selbst war einer derjenigen, der die bis zu 90 am Tag eingehenden Telefonate beantwortete. Die Angehörigen fragten nach dem Verbleib der sterblichen Überreste ihrer Lieben.

    Die Bilder aus Bergamo gingen damals um die Welt

    Die Bilder aus Bergamo brannten sich in das kollektive Gedächtnis der ganzen Welt ein, angesichts dessen kann man sich vorstellen, was für ein Trauma die Stadt und ihre Bewohner davongetragen haben müssen. Bergamos Reaktion aber waren überbordende Solidarität und schnellstmöglicher Aufbruch in eine neue Zeit. 2022 wurde die Stadt zur italienischen „Hauptstadt des Ehrenamts“ erklärt, 2023 folgte die Ernennung zusammen mit der Nachbarstadt Brescia zur „Kulturhauptstadt Italiens“. Gerade erst hat die Zeitung Sole 24 Ore die von Industrie und Handwerk geprägte Stadt im Schatten Mailands in ihrer jährlichen Rangliste zur lebenswertesten Stadt Italiens gewählt.

    Wer diesen Aufbruchsgeist besonders anschaulich versprüht, ist Elena Carnevali, die neue Bürgermeisterin. Sie steht auf dem Rathausbalkon und zeigt stolz auf den Lebensmittelmarkt gegenüber. „Das gab's vor Corona hier nicht, dieses Leben auf der Straße“, sagt die 60-Jährige begeistert. Sie ist seit Juni im Amt. Ihre Sorge gilt dem spürbaren Elan, sie will und muss ihn erhalten. Über diesen Elan kann sie viel erzählen: vom anfänglichen Boom der freiwilligen Helfer bis zu den lokalen Banken, die nach Corona Millionen in die Wirtschaft und den Wiederaufbau pumpten; vom pulsierenden, immer weiter wachsenden Tourismus mit dem nah am Zentrum gelegenen Flughafen als Dreh- und Angelpunkt bis hin zur Beinahe-Vollbeschäftigung in der Provinz.

    Der lokale Fußballverein Atalanta Bergamo spielte eine unfreiwillige Rolle bei der Verbreitung des Coronavirus vor fünf Jahren.
    Der lokale Fußballverein Atalanta Bergamo spielte eine unfreiwillige Rolle bei der Verbreitung des Coronavirus vor fünf Jahren. Foto: Julius Müller-Meiningen

    Wie seine Bürgermeisterin sprudelt Bergamo geradezu vor Energie und Unternehmungslust. Die Galerie für moderne Kunst hat seit Kurzem ein neues Zuhause, „bellissimo“, sagt die Bürgermeisterin. Ein „Tal der Biodiversität“ sowie das Innovationszentrum Kilometrorosso, in dem die Tech-Elite der Gegend Forschungsprojekte vorantreibt, gibt es schon. Dazu eine neue Konzertarena mit 6000 Plätzen. Das Kulturleben ist aufgeblüht mit Theater, Musik, Fotografie und Kunst. Während Filmtheater in aller Welt schließen, gibt es in Bergamo heute mehr Kinos als vor der Pandemie.

    „Und vergessen wir Atalanta nicht“, sagt Carnevali. Atalanta Bergamo ist die lokale Fußballmannschaft, Gewinner der Europa League 2023/24 und derzeit Dritter in der Serie A. Ein kleiner Club, derzeit ganz groß und mit Chancen auf den Gewinn der italienischen Meisterschaft. „Atalanta ist uns ähnlich“, sagt die Bürgermeisterin. Auch hier liegen Licht und Dunkel nah beieinander. Denn der nach einer griechischen Göttin benannte Fußballverein spielte eine unfreiwillige Rolle bei der Verbreitung des Coronavirus vor fünf Jahren. Das Champions-League-Achtelfinale gegen den FC Valencia fand vor 44.000 Zuschauern am 19. Februar 2020 in Mailand statt und potenzierte vermutlich die Ansteckungen zusätzlich, im Stadion und in den Bars Bergamos. Als Hauptgrund der Verbreitung gelten allerdings die regen Wirtschaftsbeziehungen der Provinz, unter anderem nach China.

    Doch es gibt auch diejenigen, die sich gar nicht begeistern können für all die positiven Zahlen und Nachrichten aus der Stadt, die angebliche Auferstehung. Cassandra und Consuelo Locati verloren am 27. März 2020 ihren 78 Jahre alten, gesunden Vater wegen Corona. „Er kam ins Krankenhaus und wir sahen ihn nie wieder“, erzählt Cassandra. Vater Locati wurde in Florenz eingeäschert, das fanden die Schwestern irgendwann im April heraus. Zehn Minuten habe die Trauerfeier gedauert. „Uns ist großes Unrecht widerfahren“, sagt Cassandra, die Vorsitzende des Vereins der Angehörigen der Covid-Opfer in Bergamo ist. Ihre Schwester Consuelo hat eine Schadensersatz-Sammelklage für 150 Angehörige gegen die Regierung in Rom eingereicht.

    Angehörige von Covid-Toten machen den Behörden noch heute schwere Vorwürfe

    Niemand habe sich in den vergangenen fünf Jahren wirklich für die Opfer und ihre Angehörigen interessiert, heißt es, deshalb sitzt die Wut so tief. „Wir haben bis heute keine Antworten auf unsere Fragen, niemand hat Verantwortung auf sich genommen“, sagt nun wieder Cassandra. Deshalb wollen die Schwestern vor Gericht Gerechtigkeit erfahren. Ihre These: Hätten sich die Behörden an die Vorgaben aus dem Pandemie-Plan gehalten und rechtzeitig reagiert, hätten 4000 Menschenleben gerettet werden können. Vielleicht haben die Schwestern Locati recht, die Justiz wird entscheiden.

    Im arbeitsamen Bergamo zieht man es gleichwohl vor, nach vorne zu blicken. Wobei, es gibt jemanden, der die Stadt vielleicht mit mehr Abstand beobachtet und einen wirklich tiefgreifenden Wandel festgestellt hat: Alberto Ceresoli, Chefredakteur der Lokalzeitung Eco di Bergamo, Auflage 40.000 Exemplare am Tag, der katholische Bischof ist Eigentümer des Blatts. „Laura, Laura, laura“, was im Dialekt soviel bedeutet wie „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ – „das ist vor der Pandemie das Motto Bergamos gewesen“, berichtet Ceresoli in seinem Büro. Seit 45 Jahren ist er bei dieser Zeitung, er kennt hier alles in- und auswendig. Die Bergamasken lebten heute nicht mehr nur für die Arbeit, glaubt der 62-Jährige. Genuss, Freizeit, Kultur, dolce vita, die Natur mit den hinter der Altstadt beginnenden Voralpen sind den Menschen offenbar wichtiger, so seine Beobachtung. Man könnte auch sagen: Das Leben ist ihnen wichtiger geworden.

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    6 Kommentare
    Martin Dünzl

    Flankierend dazu und wie man mit falschen Bildern die Panik schürt, die ja nachgewiesenermaßen politisch gewollt war, empfehle ich auch diesen Bericht hier: www.br.de/nachrichten/kultur/der-militaerkonvoi-aus-bergamo-wie-eine-foto-legende-entsteht,TJZE6AQ

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    Robert Miehle-Huang

    Dass es den Militärkonvoi mit Corona-Opfern in Bergamo tatsächlich gab, können auch Sie nicht leugnen, Herr Dünzl.

    Martin Dünzl

    Mit welcher Art von Fahrzeugen an oder mit Corona Verstorbene transportiert wurden ist die eine Sache - hier können Sie gerne Ihre Belege auf den Tisch legen - eine andere ist aber die Panikmache mit falschen Bildern, die aus dem Kontext gerissen wurden, um einen gewissen Zweck zu verfolgen.

    Robert Miehle-Huang

    Auch der BR-Artikel schreibt nicht, es hätte den Konvoi mit Corona-Opfern nicht gegeben. Nicht zu Ende gelesen? Oder nur das herausgepickt, was Ihnen in den Kram passt? Was soll der Quatsch?

    Raimund Kamm

    >>Mit welcher Art von Fahrzeugen an oder mit Corona Verstorbene transportiert wurden ist die eine Sache - hier können Sie gerne Ihre Belege auf den Tisch legen - << Herr Dünzl, das steht doch in dem BR-Artikel: >>Die LKW transportierten Leichen. << Raimund Kamm

    Martin Dünzl

    Im Gegensatz zu Ihnen scheine ich nicht nur des Lesens, sondern auch des Reflektierens mächtig zu sein, wie diese "Bilder von Bergamo" medial und argumentativ seitens der Politik eingesetzt wurden - eben, was sollte dieser Quatsch!? "In Wahrheit war das Militär nicht etwa eingesetzt worden, weil Berge von Leichen nicht anders hätten transportiert werden können. Die Anzahl der Verstorbenen war damals nicht höher als bei manchen Grippewellen in Italien (Stand April Anfang 2020)."

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