Es war ein Gemetzel, das sich in jener Novembernacht in Belgiens Hauptstadt abspielte. Da kamen sie und rissen den kleinen unschuldigen Jungen vom Sockel, brachen ihm die Beine und nahmen den Korpus mit. Als die Brüsseler am nächsten Morgen aufwachten, waren da nur noch Füße und Knöchel. Der ewige Pinkler, er pinkelte nicht mehr.
Der Diebstahl des Manneken Pis im Jahr 1965 löste nicht nur Bestürzung aus, sondern eine mittelschwere nationale Krise. Der Jüngling hatte die Engländer überlebt, die Deutschen und die Franzosen. Und nun sollte es das gewesen sein mit der Bronze-Statue, die der Bildhauer Jérôme Duquesnoy 1619 gestaltete?
Die Manneken-Pis-Statue trug kürzlich eine ukrainische Flagge
Eine Kopie ersetzte die herzzerreißenden Beinreste und folgte der Tradition des inkontinenten Originals. Bis heute ist Manneken Pis stets umlagert von Touristen und Urlauberinnen, die sich kaum sattknipsen können, mittlerweile durch ein Gitter. Eine Vorsichtsmaßnahme, seit die Diebe da waren. Wenn er nicht gerade pinkelt, wie ihn sein Künstler schuf, trägt er groß auf.
Die Brunnenfigur verkörperte schon Obelix, Mozart, Dracula und sogar Nelson Mandela mit grauer Perücke. 1095 Kostüme zählt das Archiv, gespendet meist von Organisationen und Botschaften, die mit den Outfits die Popularität von Manneken Pis nutzen „für Werbeaktionen, aus diplomatischen Gründen, zum Aufpolieren des eigenen Images oder um Aufmerksamkeit für ein Thema zu generieren“, sagt Gonzague Pluvinage.
Der 44-jährige Historiker ist der Kurator des Museums „GardeRobe-MannekenPis“, wo eine Auswahl von 40 Outfits präsentiert wird, die aus Japan oder dem Kongo stammen; die von LGBTIQ-Organisationen oder Studentenverbänden gespendet wurden. Zuletzt trug Manneken Pis Tracht und eine ukrainische Flagge – eine Solidaritätsbekundung an das überfallene Land zum 6. Monatstag nach Kriegsbeginn.
Das Manneken Pis aus Brüssel: Entführt und im Kanal gefunden
Den Knaben zu bekleiden hat eine lange Tradition. Sie geht mindestens bis 1615 zurück, als er im Schäfer-Kostüm auf einem Gemälde von Denis Van Alsloot zu sehen ist. „Zum Ende des Mittelalters gab es den Brauch, religiöse Statuen einzukleiden“, erklärt Pluvinage.
Ein Jahr nach dem Diebstahl 1965 ging bei den Behörden ein anonymer Anruf ein. Nicht weit entfernt im Kanal solle man nachschauen, da liege der arme Kerl. Packte den oder die Täter Reue? Die Belgier jedenfalls atmeten auf. Heute steht die restaurierte Statue im Museum der Stadt.