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Attentat in Solingen: Eine Stadt in Trauer

Solingen

„Immer wieder Solingen“: Eine Stadt kommt nicht zur Ruhe

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    „Du bist nicht allein“: auf dem Platz neben dem Tatort schreiben die Solinger ihre Gedanken auf ein Transparent. „Gemeinsam sind wir stark“ steht in ein Herz geschrieben.
    „Du bist nicht allein“: auf dem Platz neben dem Tatort schreiben die Solinger ihre Gedanken auf ein Transparent. „Gemeinsam sind wir stark“ steht in ein Herz geschrieben. Foto: Benedikt Dahlmann

    Langsam füllt sich der kleine Platz vor der evangelischen Stadtkirche in Solingen. Immer mehr Menschen kommen und legen Blumen nieder. Eine Regenbogenfahne ist ausgelegt, beschwert von Grabkerzen. Daneben liegt ein Transparent: „Du bist nicht allein“, steht darauf. Mit bunten Stiften wurde unterschrieben. „Gemeinsam sind wir stark“ hat jemand in ein großes Herz geschrieben. Der Fronhof, auf dem ab Freitagabend ein Attentäter drei Menschen erstochen und weitere schwer verletzt hat, ist von rot-weißem Flatterband abgesperrt.

    „Zehn Minuten bevor der Angriff passiert ist, bin ich noch über den Fronhof rüber zum Neumarkt gelaufen. Um kurz vor zehn hat die Band aufgehört zu spielen. Wir dachten, die hätten eine Pause gemacht. Dann habe ich eine Frau am Telefon sprechen gehört, die gesagt hat ‚Nein, du kommst jetzt nicht mehr hier her.‘ Kurz darauf wurden wir von der Polizei aufgefordert, das Gelände zu verlassen.“ So berichtet Martin Nitschke seine Eindrücke vom Freitag.

    Die Menschen auf dem Solinger Kirchplatz sind still und gefasst

    „Leben braucht Vielfalt“ ist der Titel des Festes, das jedes Jahr auf dem Fronhof stattfindet. Dieses Jahr fiel der Termin mit dem 650-jährigen Stadtbestehen zusammen und die Feierlichkeiten wurden miteinander verbunden. Darum erstreckte sich das Fest über mehrere Bühnen, die in der Stadt verteilt waren. Julian Grieneisen war gerade auf dem Weg vom wenige Gehminuten entfernten Neumarkt zum Fronhof, als ihm seine Freunde entgegenkamen. „Da gab es eine Messerstecherei“, hätten die ihm gesagt. „Auf dem Neumarkt haben wir das zu dem Zeitpunkt noch gar nicht mitbekommen.“

    Hinter einer Regenbogenfahne liegen Blumen. „Leben braucht Vielfalt“ hieß das Fest, bei dem ein Attentäter am Freitagabend drei Menschen ermordete.
    Hinter einer Regenbogenfahne liegen Blumen. „Leben braucht Vielfalt“ hieß das Fest, bei dem ein Attentäter am Freitagabend drei Menschen ermordete. Foto: Benedikt Dahlmann

    Die Menschen, die an diesem Samstagmittag auf dem Fronhof zusammenkommen, um gemeinsam Blumen niederzulegen, sind still und gefasst. Es ist bei Weitem nicht das erste Mal, dass sie um gewalttätig verletzte oder ermordete Mitmenschen trauern. 1993 erlangte die Stadt zwischen Düsseldorf, Wuppertal und Köln mit ihren 160.000 Einwohnern erstmals bundesweit traurige Berühmtheit. Damals starben fünf Menschen bei einem rechtsextremen Brandanschlag. Im März dieses Jahres wurden wieder vier Menschen bei einem Brandanschlag getötet. Wie 1993 waren die Opfer Ausländer. Zwei Wochen vor dem Brandanschlag im März soll der Täter Menschen mit einer Machete angegriffen haben.

    „Immer wieder Solingen“, sagt Martin Nitschke, „wir sind echt gebeutelt. Und trotzdem haben die Menschen gestern ruhig und besonnen reagiert. Keine Panik, kein gar nichts. Solingen hat das gesittet und verantwortungsvoll aufgenommen. Davor ziehe ich meinen Hut.“ Zwei Stunden habe er vom Stadtfest nach Hause gebraucht, nachdem die Polizei die Veranstaltung aufgelöst hatte. „Die haben schnell reagiert, das kann man nicht anders sagen.“

    Seelsorgerin Simone Henn-Pausch: „Die Menschen sind in sich gekehrt, aber solidarisch.“

    Auch jetzt, wenige Stunden nach dem Attentat, herrscht unter den Menschen am Fronhof ein Gefühl von Zusammenhalt. Ein Musiker singt Kirchenlieder: „Sein Angesicht sei euch zugewandt. Friede sei mit euch.“ Überall sind Seelsorger ins Gespräch vertieft. „Die Menschen sind still und in sich gekehrt, aber auch solidarisch“, sagt die Koordinatorin der Notfallseelsorge von der evangelischen Kirche, Simone Henn-Pausch. „Dennoch erleben gerade Ältere, dass sich die Stadt verändert hat, dass es einfach immer mehr solcher Situationen gibt.“

    Die evangelische Stadtkirche steht heute offen. An Tagen wie diesen kommen die Menschen doch wieder hier zusammen. „Das ist der einzige Ort, an dem wir Blumen niederlegen können“, sagt Julian Grieneisen. Er ist gemeinsam mit seiner Freundin hergekommen, um der Opfer zu gedenken. Martin Nitschke hat auf dem Kirchplatz einen langjährigen Freund getroffen.

    Still gedenken die Menschen auf dem Platz an der evangelischen Stadtkirche der Toten und Verletzten.
    Still gedenken die Menschen auf dem Platz an der evangelischen Stadtkirche der Toten und Verletzten. Foto: Benedikt Dahlmann

    Der möchte nicht mit Namen in der Zeitung erscheinen, aber er bringt eine wichtige Perspektive in die Gespräche: „Ich bin vor 49 Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Ich habe hier fleißig gearbeitet, meine Steuern gezahlt, aber ich habe mittlerweile einfach keine Lust mehr. Meine Mutter hat direkt hinter dem Haus gewohnt, in dem es im März den Brandanschlag gegeben hat. Es war so eine schöne Stadt. Aber inzwischen habe ich Angst, mit meiner Familie in die Stadt zu gehen. Darum meide ich mittlerweile große Menschenmengen.“ Beim letzten Satz widerspricht Nitschke ihm ein wenig: „Das ist genau das, was diese Leute wollen. Darum müssen wir eigentlich sagen, ‚ihr zwingt uns nicht in die Knie‘.“

    Kaum einer spricht in Solingen über den Täter

    Was auffällt in den Gesprächen in der Nähe des Fronhofs: Kaum einer spricht über den Täter. „Das bringt auch nichts“, sagt Nitschke, „da sollten wir alle mit klarem Kopf rangehen, ruhig bleiben. Wer der Täter oder die Täterin war, soll die Polizei ermitteln. Ich bin mir sicher, dass die das schnell herausfinden.“ Eher geht es darum, wie das ganze passieren konnte und wie so etwas in Zukunft vermieden werden kann.

    „Ich verstehe nicht, wie jemand mit einem Messer durch die Menge geht und niemand kriegt etwas mit“, sagt Nitschkes Freund. „Versuch mal ein kleines Kind in so einer Menge zu finden, da hast du auch keine Chance“, erwidert Nitschke. „In Essen ist es so, dass bei Großveranstaltungen überall so Betonklötze stehen und an jedem Klotz steht einer von der Security. Davon habe ich gestern quasi nichts gesehen“, sagt Nitschke. Gemeinsam mit anderen Trauernden denken sie über Videoüberwachung nach. Sie kommen zum Schluss, dass dafür wohl die gesellschaftliche Akzeptanz fehle.

    Der Solinger Fronhof. Hier ereignete sich am Freitagabend das Attentat. Die Bühne und Getränkewägen stehen unberührt da.
    Der Solinger Fronhof. Hier ereignete sich am Freitagabend das Attentat. Die Bühne und Getränkewägen stehen unberührt da. Foto: Benedikt Dahlmann

    Unterdessen ist es am Kirchplatz richtig voll geworden. Kamerateams aus ganz Europa haben sich auf dem Platz versammelt. Seelsorgerin Henn-Pausch kann sich vor Interviewanfragen kaum retten. Julian Grieneisen ist bereits gegangen. Und auch Martin Nitschke verabschiedet sich. Nur sein Freund bleibt zurück und schaut gedankenverloren auf das Treiben. In der Hoffnung, dass es endlich das letzte Mal war, dass sein Solingen für solch eine Schlagzeile gesorgt hat.

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