Es ist Mittagszeit am Hafen von Pozzuoli, und die Fähre von Toremar legt am Kai an. Sie verbindet die italienische Stadt mit den Inseln Ischia und Procida. Antonio Il Lungo belädt gerade seinen alten Fiat Panda mit Brot, Bier und was man sonst noch so zum Leben braucht. Der frühere Polizist ist 76 Jahre alt, er kennt Pozzuoli wie seine Westentasche und kann viel erzählen.
Auch, wie es früher war, als der Meeresspiegel hier anderthalb Meter höher stand. „Da drüben, in dem weißen Gebäude, hat meine Schwiegermutter gelebt. Das Wasser reichte bis ans Haus hin, ja bis ans Haus“, sagt er wild gestikulierend. Er deutet zur Pizzeria Pisani. Dort, wo sich einst die Wellen brachen, schieben sich an diesem Tag Restaurantgäste Pizzastücke in den Mund. Wer nur etwa 50 Meter an der Pizzeria vorbei zum alten Hafenbecken, der Darsena, läuft, sieht, dass die Fischerboote allesamt auf Grund liegen. Das Wasser ist zurückgegangen. Aber nicht etwa wegen der Gezeiten: Im Erdinneren unter Pozzuoli rumoren die Phlegräischen Felder. Der Untergrund ist in Bewegung, er bebt – und hebt sich, und das seit Jahrzehnten. Allein seit dem Jahr 2006 wurde die Erdoberfläche um 1,31 Meter angehoben.
Allein im vergangenen Mai wurden 1500 Erdstöße registriert
20 Kilometer westlich der 900.000-Einwohner-Stadt Neapel sitzen die Menschen Jahr für Jahr mehr auf dem Trockenen. Und auf einem „Supervulkan“. Sie leben in einer Gefahrenzone, die jeden Moment zum Katastrophengebiet werden könnte.
„Schauen Sie doch“, sagt Antonio Il Lungo. „Links legten die Fähren einmal an, aber die Mole ist jetzt zu hoch.“ Rechts wurde Mitte der 1980er Jahre eine zweite Mole, eine Art Damm, gebaut. Die, an der die Toremar-Fähre festgemacht hat. Die aussteigenden Touristen bemerken nichts vom unterirdischen Rumoren, einige dürften noch nie von den Phlegräischen Feldern gehört haben.
Wer länger in Pozzuoli lebt, kann dagegen viel erzählen, auch darüber, wie sich die Stadt verändert hat. Und wie es ist, mit der Gefahr aus dem Untergrund umzugehen. Mit den ständigen Erdbeben beispielsweise. Sie sind Warnsignale, viele Einwohnerinnen und Einwohner haben sich an sie gewöhnt. Kein Wunder, bei der Anzahl. Im vergangenen Mai wurden 1500 Erdstöße registriert, kleinere und größere. Gebäude wurden beschädigt, Fassaden in der Altstadt werden seitdem mit Gerüsten abgestützt. Inzwischen hat sich die Lage beruhigt. Doch erst Anfang Dezember wurde wieder ein Erdstoß gemessen, dieses Mal einer der Stärke 3,4. Derzeit sind es rund 400 solcher Warnsignale. Pro Monat. „Wir tanzen hier über dem Abgrund“, sagt Antonio Il Lungo.
Wie ernst nehmen die Menschen die Gefahr?
Wie ist es, auf einem Supervulkan zu leben? Wie ernst nehmen die Menschen die Gefahr? Das will man ebenfalls von Mauro Di Vito wissen. Wobei „Supervulkan“ ein Begriff ist, den man in seiner Gegenwart lieber nicht verwendet. Di Vito ist Direktor des Vesuv-Observatoriums, das für die Überwachung der Phlegräischen Felder zuständig ist. Es sitzt in einem schmucklosen Verwaltungsblock im Stadtteil Fuorigrotta von Neapel. Auch hier spürt man ab und an Erdbeben, manchmal ausgelöst vom Jubel der Tifosi des SSC Neapel im nahegelegenen Diego-Armando-Maradona-Stadion, häufiger vom Supervulkan. „Das ist ein Begriff, den sensationslüsterne Vulkanforscher benutzen, wir sagen Caldera“, erklärt Di Vito. Denn was der Direktor gar nicht mag, ist Hysterie.
Mauro Di Vito wirkt abgeklärt, ist freundlich. Neben seinem Computer-Bildschirm steht ein großes rotes Horn, ein in Neapel weitverbreitetes Symbol, dem die Abwehr von Unglück zugetraut wird. Vulkanausbrüche inklusive. Caldera also: Die Caldera, der Riesenkrater, hat sich bei einem enormen Vulkanausbruch vor 15.000 Jahren gebildet. Sie umfasst eine Fläche von bis zu 18 Quadratkilometern und reicht vom Westen Neapels über Fuorigrotta, Bagnoli und Pozzuoli über den Golf fast bis zur Insel Ischia. Ein Ungeheuer, das im Untergrund schlummert. Darauf: rund 1,5 Millionen Menschen.
Schon in alten Zeiten haben sich Menschen in diesem Gebiet wegen der fruchtbaren Vulkanerde angesiedelt. Hinzu kommt die Schönheit der Gegend mit ihrem Wechselspiel aus Land und Wasser, ihren weichen Konturen und ihrem mediterranen Licht. Wie höllisch es im Untergrund zugeht, kann man bei einem Besuch des Solfatara-Kraters auf halbem Weg zwischen Fuorigrotta und Pozzuoli erahnen. Aus dem Krater steigen Schwefeldämpfe auf, es blubbert aus heißem Schlamm, das Gestein ist an manchen Stellen gelblich gefärbt. Seit 2017 ist das Areal für Besucher gesperrt. Damals stürzten drei Touristen in einen Spalt und erstickten an den giftigen Gasen.
Direktor Di Vito wird nachts aus dem Bett geholt, wenn ein Erdbeben den Wert 1,5 übersteigt
Die Geschichte kennt einige derartige Fälle. Im Jahr 1538 gab es den letzten größeren Ausbruch, mit 24 Toten. Wann kommt der nächste? Diese Frage beschäftigt viele, bleibt allerdings ohne Antwort. Wissenschaftler haben in Animationen einen Ausbruch simuliert, in dem sich Lavaströme ebenso spektakulär wie beunruhigend über das Areal und ins Meer ergießen. Man möchte hoffen, dass bei einem solchen Szenario alle Bewohner der Gegend anderswo sind, wenn das Befürchtete eintritt. Vorhersehbar sind Ausbrüche nicht, stellt Di Vito kühl fest. „Seit Jahren überwachen wir zwar mit großer Genauigkeit den Vulkan, aber Vorhersagen bleiben Vorhersagen. Der Vulkan sagt nicht vorher Bescheid, er entscheidet ganz allein.“
Zuletzt hat er nach einer langen Ruhephase um das Jahr 2012 entschieden, massive Signale in Gestalt von Erdbeben an die Oberfläche zu senden. „Bradyseismus“ nennen Geowissenschaftler wie Mauro Di Vito das Phänomen, wenn sich die Erdoberfläche langsam hebt und senkt. „In den vergangenen beiden Jahren hat sich das Phänomen noch einmal verstärkt“, sagt er. Dennoch hat der italienische Zivilschutz, der sich der Informationen aus dem Vesuv-Observatorium bedient, immer noch nicht von Alarmstufe Gelb auf die nächsthöhere Alarmstufe Orange geschaltet. Das hätte die ersten Evakuierungsmaßnahmen zur Folge.
Direktor Di Vito, der nachts aus dem Bett geholt wird, wenn ein Erdbeben den Wert 1,5 übersteigt, führt nun von seinem Büro in einen „Situation Room“ im unteren Stockwerk. Auf ungezählten Bildschirmen werden in ihm alle unterirdischen Bewegungen übertragen und dokumentiert. Er zählt auf: 35 GPS-Empfänger kontrollieren die Deformation des Bodens; 32 Messstationen zu Wasser und zu Land registrieren Erdbeben; Wärmebildkameras erfassen die Temperatur; an fünf Stellen wird die Zusammensetzung der Gase im Erdinneren aufgezeichnet, um ein Aufsteigen von Magma festzustellen. Die Phlegräischen Felder sind einer der am besten überwachten Vulkane der Welt. „Die Magma-Kammer befindet sich in 7,8 Kilometer Tiefe“, erklärt Di Vito. „Wir haben derzeit keine Anzeichen für vulkanische Aktivität.“ Trotz der Erdbewegungen des Bradyseismus hätten sich die Parameter im vulkanischen System nicht verändert. Deshalb bleibe es bei Alarmstufe Gelb.
Was angesichts all dessen überrascht: Obwohl die Gefahr durch den Vulkan bekannt ist, kann man den Eindruck gewinnen, dass Behörden wie Bewohner diese nicht über die Maßen ernst nehmen. Im vergangenen Sommer gab es nach langer Zeit eine Katastrophenübung: In Pozzuoli nahmen 30 Menschen daran teil, in Bagnoli 16. Bei einer zweiten Übung im Oktober kamen 89 Teilnehmer aus Fuorigrotta und 139 aus Bagnoli. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass im Ernstfall ein gewaltiges Chaos ausbrechen würde. „Die Menschen müssen auf den Ernstfall vorbereitet werden“, sagt Di Vito, und wird konkret: Sie sollten auf keinen Fall mit dem eigenen Auto flüchten, weil sonst die Zufahrtswege für die Rettungsfahrzeuge blockiert würden. Stattdessen sollen Busse die Menschen in Richtung Norden bringen.
Die Gefahr, die vom Untergrund ausgeht, mag leicht zu sehen sein. Genauso leicht ist sie offensichtlich zu übersehen
Rita und Antonella sind in der Bar Santamaria in der Nähe des ausgetrockneten Darsena-Hafens beim Espresso anzutreffen. Rita hat es schon erlebt, wie es ist, ihr Zuhause verlassen zu müssen. Als der Boden in Pozzuoli 1980 heftig bebte, wurde sie als junge Frau mit ihrer Familie in Richtung Norden an die Küste des Tyrrhenischen Meers verfrachtet. Erst nach einem Jahr konnte sie zurück. „Keine schöne Zeit“, sagt Rita. Ihre Freundin Antonella wird deutlicher: „Wenn die Erde bebt, habe ich Angst“, sagt sie. „Ich denke dann, ok, jetzt muss ich weg.“ Bei den Katastrophenübungen haben beide nicht mitgemacht.
Die Gefahr, die vom Untergrund ausgeht, mag leicht zu sehen sein. Genauso leicht ist sie offensichtlich zu übersehen oder zu verdrängen, erst recht, wenn sich der Vulkan beruhigt und das Leben in seinen normalen Bahnen verläuft. „Das Meer, die Ruhe, wir kennen uns alle, haben alles“, sagt Antonella. Warum weggehen? „Ich riskiere es“, fügt sie hinzu, sie wolle bleiben. Antonella nippt an ihrem Espresso. Dann spricht Rita einen Satz, der wie kaum ein anderer den Fatalismus beschreibt, mit dem die Menschen auf dem Mega-Krater der Phlegräischen Felder ihr Schicksal hinnehmen: „Wenn's passiert, dann passiert's – und wenn nicht, dann nicht.“ Nach Norden wird sie sich jedenfalls kein zweites Mal verpflanzen lassen. „Da oben können sie uns Neapolitaner ja sowieso nicht ausstehen!“, meint sie.
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