Ein Jahr lang war der Lafayette Park direkt hinterm Weißen Haus nach den George-Floyd-Protesten und einem brutalen Polizeieinsatz gesperrt. Seit neuestem ist der Zugang zu der grünen Oase im Zentrum der Macht wieder eröffnet. Doch wer dort in diesen Tagen ein Plätzchen zum Verweilen sucht, der wird enttäuscht: Alle schattigen Bänke sind vergeben - okkupiert von unzähligen rotäugigen Invasoren aus der Unterwelt.
Die Parkbesetzer haben die älteren Rechte. Als sie hier in den Bäumen gezeugt wurden, saß ein paar hundert Meter weiter noch Präsident George W. Bush im Oval Office. Volle 17 Jahre haben sie als Nymphen im dunklen Lockdown unter dem Rasen gewartet, und nun bleiben ihnen nur zwei bis vier Wochen an der frischen Luft: In und um Amerikas Hauptstadt hat die Invasion der Zikaden begonnen. Milliarden dieser Insekten dürften jetzt aus ihrem Hautpanzer schlüpfen. Während sich für die einen damit ein begeisterndes Weltwunder abspielt, fürchten andere eine biblische Plage.
Zikaden in Washington seien wie "Teenager"
Der Besitzer des mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Restaurants Little Pearl auf der Pennsylvania Avenue gehört offenkundig zur zweiten Gruppe: Er hat die Eröffnung seines Restaurants mit Außenterrasse aus Angst vor den ohrenbetäubend dröhnenden Zirpen um vier Wochen verschoben. Der Insektenforscher Michael Raupp von der Universität Maryland hingegen ist von dem bevorstehenden Naturspektakel begeistert: „Das sind Teenager, die 17 Jahre lang unter dem Boden waren. Die machen einen Gefängnisausbruch. Es geht um Romantik“, schwärmt er: „Es wird verrückt werden.“
Tatsächlich wirkt die Dimension des erwarteten Ereignisses gewaltig. Die 2,5 Zentimeter langen Monster-Fliegen im Lafayette-Park sind nur die Vorboten. Wenn die Experten Recht behalten, werden zum Höhepunkt Milliarden Zikaden den Osten der USA mit Washington als Epizentrum bevölkern. Die Ankömmlinge gehören zur sogenannten Brut X der periodischen Zikaden. Die schlüpft nur alle 17 Jahre, ist dafür aber besonders zahlreich und ohrenbetäubend laut. Ganze Gärten und Parks könnten die Schwärme unter sich begraben. Mit ihrem bis zu 90 Dezibel lauten Liebesgesang erreichen sie den Lärmpegel eines Rasenmähers.
Zikaden erleben eine großes Liebes-Abenteuer
Die Lebensgeschichte der Brut-X-Zikaden ist einzigartig. Wenn der Boden eine Temperatur von 18 Grad erreicht hat, krabbeln sie als Nymphen aus dem Erdreich, wo sie sich 17 Jahre zuvor eingegraben haben, und klettern den Stamm des nächstliegenden Baumes hinauf, um sich zu häuten. Nach einer Ruhepause von vier bis sechs Tagen sind sie stark genug für das große Liebes-Abenteuer: Mit Hilfe ihrer sieben Zentimeter langen Flügel steigen sie in die Baumkronen hinauf, um sich zu paaren. Vorher jedoch müssen die Männchen ein Weibchen finden, um das sie mit lautem Zirpen werben. Die wilde Sexparty findet nach ein paar Tagen ein jähes Ende: die befruchteten Weibchen legen ihre Eier in aufgeschlitzte Zweige ab. Die Eltern sterben. Aus den Eiern schlüpfen nach mehreren Wochen neue Nymphen, die sich im Boden eingraben. Der Kreislauf beginnt von vorne.
Das klingt wie ein Stoff, aus dem in Hollywood wahlweise sentimentale Liebesfilme oder beängstigende Horrorstreifen gemacht werden, zumal die milliardenfachen Überbleibsel der Insekten in Gärten und auf Wegen nach Augenzeugenberichten recht unangenehm riechen. Tatsächlich ist das mediale Interesse riesig. Die Washington Postberichtet fast täglich über den Stand der Zikaden-Saison, die Auswirkungen des zuletzt relativ kühlen Wetters, eine neuartige Pilzkrankheit unter den Insekten und Grillgerichte, die man angeblich mit den gesunden Exemplaren zubereiten kann. Die renommierte Nachrichtensendung "PBS Newshour" ließ einen ihrer prominenten Politik-Reporter im Garten nach Nymphen graben. Und die New York Timesermahnte ihre Leser: „Es ist keine Invasion. Es ist ein Wunder.“
Für den Menschen sind die Zikaden keine Gefahr
Viele Wildtiere dürften sich vor allem über ein Festmahl freuen. Die proteinhaltigen Insekten gelten als Delikatesse für Vögel, Eichhörnchen, Waschbären und Frösche. Auch Hunde können sie fressen - allerdings besser nicht in übergroßer Zahl: der Chitinpanzer ist schwer verdaulich. Für den Menschen hingegen, versichert Experte Raupp, sind die liebestollen Brummer völlig ungefährlich. Sie stechen nicht und beißen nicht: „Das sind harmlose Kreaturen.“
Alles, was die Zikaden wollen, ist ein kurzes Leben und viel Sex. Fasziniert zückt mancher Besucher im Lafayette Park sein I-Phone, um die ebenso kuriosen wie seltenen Eindringlinge zu fotografieren: Bei deren letztem Besuch im Jahr 2004 wäre das noch nicht gegangen.
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