Startseite
Icon Pfeil nach unten
Panorama
Icon Pfeil nach unten

Zehn Jahre danach: Viele in New Orleans leiden unter den Spätfolgen von Hurrikan "Katrina"

Zehn Jahre danach

Viele in New Orleans leiden unter den Spätfolgen von Hurrikan "Katrina"

    • |
    Das vom Hurrikan «Katrina» überflutete New Orleans am 3.9.2005. Foto: Phillip dpa
    Das vom Hurrikan «Katrina» überflutete New Orleans am 3.9.2005. Foto: Phillip dpa

    Gleich hinter der Corpus-Christi-Kirche scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Neben einem knallgelb gestrichenen Haus steht eine abbruchreife Bude, an deren Fassade die Markierungen der Katastrophenhelfer noch zu sehen sind. Fenster und Türen sind mit Brettern vernagelt und von Efeu umrankt. Kein seltener Anblick im schwarzen Seventh-Ward-Viertel von New Orleans, das während des Jahrhundertsturms „Katrina“ im August 2005 zu den am stärksten betroffenen Stadtteilen zählte.

    Fernand Cheri, 63, zeigt mit der Hand Richtung Norden, wo er unweit von hier mit vier Schwestern und zwei Brüdern in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs. „Hier sind wir herumgestrolcht“, erzählt der Franziskaner-Pater über das Viertel, das zwischen Treme und dem Lower-Ninth-Ward liegt. Seine Angehörigen leben über New Orleans verteilt – während „Katrina“ verloren sie 30 Häuser. „Am härtesten traf es die Ärmsten in unserer Familie“, erinnert sich Cheri, den Papst Franziskus im Januar zum Weihbischof von New Orleans berief.

    Viele Häuser sind zehn Jahre nach dem Hurrikan "Katrina"  noch unbewohnbar

    Das gilt nicht nur für Cheris Familie, sondern für die gesamte Stadt: Zehn Jahre nach dem Hurrikan sind vor allem in den Armenvierteln wie dem Seventh Ward viele Häuser weiter unbewohnbar. „Die verlassenen Häuser erzählen die Geschichte“, sagt der Weihbischof, der in den USA einer von acht Afro-Amerikanern im Bischofsamt ist. Die verwaisten Bauten seien die stummen Zeugen einer Naturkatastrophe, die gleichzeitig als größtes menschengemachtes Desaster in die Geschichte der

    Mehr als 1830 Menschen kamen in dem Jahrhundertsturm ums Leben, der Deiche brechen ließ und große Teile der Stadt überflutete. Mit Sachschäden in Höhe von 108 Milliarden Dollar gilt der Jahrhundertsturm bis heute als teuerste Naturkatastrophe der USA. Die meisten Menschen starben, weil sie keine Chance hatten, die Stadt zu verlassen. Experten hatten eine solche Katastrophe aufgrund der geografischen Lage der Stadt seit langem befürchtet. Dass die Verantwortlichen keine Vorkehrungen getroffen hatten, bleibt für Cheri umso unverständlicher. „Sie haben nicht an Leute gedacht, die kein Auto hatten, um aus der Stadt zu fliehen.“

    Als Tourist spürt man das Trauma in New Orleans schon lange nicht mehr. Im Vergnügungsviertel French Quarter vibriert das Leben zwischen Blues-Bars und den Cajun-Gerüchen praller als je zuvor; die Strip-Klubs der Bourbon Street können über Besuchermangel so wenig klagen wie die vornehmen Galerien in den Parallelstraßen. Viele der vor sich hinrottenden Häuserruinen wurden durch bunte neue Häuser auf Pfählen ersetzt. „Unsere Stadt ist wiederauferstanden“, verkündet der demokratische Bürgermeister Mitch Landrieu zum zehnten Jahrestag des Hurrikan-Desasters am 29. August. Und worauf diese Geschichte von „Tragödie und Triumph, Wiedergeburt und Erlösung“ gründe, lasse sich in einem Wort zusammenfassen: „Widerstandskraft“. Bei der Feier dieser Wiedergeburt will auch US-Präsident Barack Obama dabei sein: Er hielt gestern, zwei Tage vor dem Jahrestag, in New Orleans eine Rede. Und Bürgermeister Landrieu erklärte: „Es ist eine der größten Comeback-Geschichten, die das Land seit sehr langer Zeit gesehen hat.“ Damit hat er zumindest teilweise recht.

    New Orleans ist nach der Naturkatastrophe "wiederauferstanden"

    Noch vor wenigen Jahren sah New Orleans schlimmer aus als das bankrotte Detroit. Heute hat die Stadt 85 Prozent ihrer alten Einwohnerzahl zurückerlangt. Mit 9,5 Millionen Besuchern pro Jahr kommen auch fast wieder so viele wie vor der Katastrophe. Dabei hängt die Metropole längst nicht mehr so einseitig vom Tourismus ab wie früher; unter anderem sorgen Computer- und Filmunternehmen für Wachstum. Das Magazin Forbes führt „New Orleans auf Platz eins der Städte, die Hochschulabgänger nach ihrem Studium ansteuern. Hippe neue Viertel sind entstanden; Bürgermeister Landrieu rühmt Revolutionen im Bildungs- und Gesundheitssystem: Die Stadt habe ihre Krise zur Erneuerung genutzt.

    Der Jubel verdeckt aber auch Schattenseiten. Es gibt immer noch tausende Häuser und Unternehmen weniger als vor dem Sturm. Keine andere US-Metropole hat eine so hohe Mordrate. Fachleute glauben, dass sich eine Katastrophe wie 2005 wiederholen kann. Denn die USA vernachlässigen nach Ansicht von Bürgermeister Landrieu ihre Infrastruktur: „Die Katastrophe in New Orleans war eine menschengemachte Katastrophe. Die Ursache war das Versagen des vom Bund gebauten Schutzsystems.“

    Die Wiedergeburt ist nicht allen zugutegekommen. Im Osten der Stadt sterben nach wie vor ganze Viertel vor sich hin. Es sind die hergebrachten Viertel der Armen. Auch Bischof Cheri kennt aus der eigenen Familie die Geschichten der Verlierer aus der Zeit nach der Katastrophe. Wie Firmen staatliche Gelder einstrichen und nie zu Reparaturarbeiten auftauchten, Versicherungen darüber stritten, ob es sich um Wasser- oder Windschäden handelte, und Nachbarn fortzogen, weil sie weder ein Dach über dem Kopf noch einen Job hatten.

    Es gab keinen funktionierenden Evakuierungsplan und die Behörden waren massiv überfordert

    Am fünften Jahrestag des Unglücks, im Jahr 2010, hat Bürgermeister Landrieu schon einmal hehre Worte gesprochen. Damals ging es um „die schöne Wahrheit, die ,Katrina‘ uns alle gelehrt hat: Wir sind alle gleich.“ Aber gerade das stimmte nie. Afroamerikaner erinnern sich weniger an eine schicksalhafte Naturkatastrophe als an ein grandioses Behördenversagen, unter dem vor allem Schwarze zu leiden hatten.

    Als „Katrina“ am 28. August 2005 auf die Golfküste zuraste, ließ es der „National Weather Service“ an Deutlichkeit nicht fehlen: Wer in der Gegend bleibe, riskiere den Tod, warnte die Agentur. Es gehört zu den Mythen der Anfangszeit, dass die Verzweifelten, die nach der Katastrophe um Hilfe flehten, zu stur gewesen seien, um sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.

    1,3 Millionen Menschen verließen ihre Häuser im Bundesstaat Louisiana; im Ballungsraum New Orleans waren es 400000. Für die verbleibenden 60000 aber gab es keinen funktionierenden Evakuierungsplan – wer kein Auto und nicht genug Geld für ein Fernbusticket hatte, saß fest. Das waren vor allem Farbige. Die überforderte Verwaltung packte 30000 Menschen in den Superdome, die Sportarena im Zentrum.

    Was dann über die Stadt hereinbrach, war allerdings schlimmer, als es selbst Meteorologen erwartet hatten: Bevor „Katrina“ aufs Festland prallte, hatte der Sturm sich zwar von Stufe fünf zu einem Hurrikan der Stufe drei abgeschwächt. Aber das war immer noch genug, um die maroden Deichsysteme an mehr als 50 Stellen zu durchbrechen – Untersuchungen ergaben später, dass die Anlagen Pfusch gewesen waren. New Orleans liegt unter dem Meeresspiegel. Nach überstandenem Sturm stand die Stadt zu 80 Prozent unter Wasser, im Durchschnitt 1,30 Meter tief. Drei Millionen Menschen hatten keinen Strom.

    Schutzlose Menschen auf den Dächern und im Wasser treibende Leichen

    Die Behörden vor Ort waren massiv überfordert, aber auch die Bundesagentur für Katastrophenschutz FEMA half spät und in kleinerem Ausmaß als angefordert. Präsident George W. Bush erwischte das Unheil auf dem falschem Fuß: Er urlaubte auf seiner Ranch im texanischen Crawford und brach die Ferien erst zwei Tage nach dem Sturm ab. Den von ihm eingesetzten FEMA-Chef Michael Brown lobte er mit dem sprichwörtlich gewordenen Satz: „Du machst eine super Arbeit, Brownie“ – zehn Tage später trat Brown zurück. Einen Trip in die Stadt unternahm Bush erst zwei Wochen später.

    Im Fernsehen erlebte die schockierte Nation derweil fassungslose Reporter, die über schutzlose Menschen auf den Dächern ihrer Häuser berichteten, im Wasser treibende Leichen und verzweifelte Nahrungssuchende. Politiker wie Medien gaben dabei auch reine Gerüchte weiter: Weltweit verbreitete sich die Geschichte von gesetzlosen Zuständen im Superdome, in dem es angeblich zu Vergewaltigungen und Morden kam. Obwohl sie auch der Ex-Bürgermeister Ray Nagin verbreitete, stimmte sie nicht – von den 30000 Menschen im Superdome starben nur sechs, keiner davon durch Fremdverschulden.

    Auch sonst wurden die Ausschreitungen in der Stadt vielfach übertrieben dargestellt, oft mit einer verräterischen Tendenz: Weiße wurden als Opfer auf der Suche nach Lebensmitteln bezeichnet, Farbige als Plünderer tituliert. mit afp, kna

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden