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Wittenberg: Warum in der Luther-Stadt jetzt der Teufel los ist

Wittenberg

Warum in der Luther-Stadt jetzt der Teufel los ist

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    Wittenberg bereitet sich auf das 500-jährige Luther-Jubiläum vor. (Symbolbild)
    Wittenberg bereitet sich auf das 500-jährige Luther-Jubiläum vor. (Symbolbild) Foto: Hendrik Schmidt, dpa

    Als Martin Luther vor 500 Jahren seine weltberühmten 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche hämmerte, tat er das in einer mittelalterlichen Stadt, in der Ochsenkarren über holprige Straßen ruckelten und Ablasshändler mit ihrer Vision des Fegefeuers Angst und Schrecken verbreiteten. Er tat es in einer Stadt, deren Bewohner nach Missernten ums Überleben kämpften. Und er tat es im Umfeld einer der damals bedeutendsten Universitäten Europas, die Gelehrte und mit ihnen revolutionäre Ideen anzog. Wer Wittenberg im Frühling 2017 besucht, kurz vor Beginn des Evangelischen Kirchentags, findet eine beschauliche, herausgeputzte, fast verschlafene Stadt vor. Ein Stückchen heile Welt. Eine Stadt, die nach zehnjähriger Planungszeit in den letzten Vorbereitungen für das Reformationsjubiläum steckt, das den Sommer über rund eine Million Menschen anziehen soll. Und eine Stadt, in der die meisten der 50.000 Einwohner mit Kirche und Reformation nichts mehr am Hut haben.

    Die Stadt putzt sich für den Reformationssommer heraus

    Christine Schajka steht ratlos im Innenhof des Lutherhauses, jenem ehemaligen Kloster, das der Reformator später als Privathaus nutzte. Inmitten verblühter Magnolienbäume wird wenige Tage vor dem offiziellen Startschuss des Reformationssommers neues Kopfsteinpflaster verlegt. Bauzäune versperren den Weg zum Eingang des Museums. Dass Christine Schajka jetzt schon hier ist, ist Zufall. Die Frankfurterin hat ihre Tochter in Leipzig besucht und den Zug für die Heimfahrt versehentlich für einen Tag später gebucht. 24 Stunden Extra-Zeit also. Deshalb der Abstecher in die „Lutherstadt Wittenberg“, so der amtliche Name, gut 100 Kilometer südwestlich von Berlin. „Ich wollte im Sommer sowieso herkommen, man hat ja schon viel gehört und gelesen“, sagt sie, reckt den Hals und versucht, irgendwie von der Baustelle wegzukommen. Ein Arbeiter im Blaumann fasst sich schließlich ein Herz. „Kommen Sie, schnell, hier lang“, sagt er und öffnet für sie einen der Bauzäune.

    Überall in der Innenstadt säumen frisch getünchte Fassaden in Sandtönen die gepflasterten Straßen und Gassen. Vor dem früheren Wohnhaus des Reformators Philipp Melanchthon, der Luther bei der Übersetzung der Bibel ins Deutsche half und dessen Haus mit seinen runden Giebeln auf dem Programm eines jeden Touristen steht, knipst ein älteres Ehepaar Fotos. Ihre beige-braunen Jacken fügen sich perfekt ins Stadtbild ein.

    Was ist ein Kirchentag?

    Alle zwei Jahre kommen zum Deutschen Evangelischen Kirchentag mindestens 100.000 Protestanten zusammen, immer in einer anderen Stadt.

    Er dauert fünf Tage und bietet Platz für Vorträge und Podiumsdiskissionen.

    Die Themen reichen von aktuellen sozialen, kirchlichen und politischen Themen bis hin zu Bibelarbeiten und Gottesdiensten.

    Daneben wird ein reichhaltiges Kulturprogramm angeboten.

    Der Kirchentag versteht sich als Forum für Laien, er will Christen zusammenführen.

    Noch gehört die Stadt vor allem Schulklassen und Rentnern. Aber mit dem Kirchentag vom 24. bis 28. Mai in Berlin und eben hier in Wittenberg soll sich das ändern. Schließlich wird dies ein ganz besonderer Kirchentag sein, der 500 Jahre nach Luthers Thesenanschlag einen ganzen Reformationssommer einläutet. Letzten Sonntag schon wurde die „Weltausstellung Reformation“ eröffnet, bei der 80 internationale Aussteller unter dem Titel „Tore der Freiheit“ 16 Wochen lang die reformatorische Botschaft in Form von Ausstellungen, Themenabenden und Konzerten nach Wittenberg bringen. Dazu werden Gäste aus aller Welt erwartet.

    Wittenberg profitiert enorm vom Reformationsjubiläum

    Die Vorboten sind schon da. Sprachfetzen der Tourguides hallen in verschiedenen Sprachen durch die Gassen. Kamerateams filmen Markthändler, die mit stoischer Gelassenheit ihr Gemüse verkaufen. 220 Freiwillige aus vielen Nationen leben hier ein Jahr lang in Wohngemeinschaften und unterstützen die rund 120 Hauptamtlichen bei der Vorbereitung und Durchführung des Reformationssommers. Und am Sonntag wollen bis zu 200.000 Menschen auf den Elbwiesen gemeinsam einen Festgottesdienst feiern. Wittenberg wird in diesen Wochen zu einer Art kleiner Weltstadt.

    Ein paar Straßen nördlich der Altstadt im neuen Rathaus fühlt sich Oberbürgermeister Torsten Zugehör ein bisschen wie vor einer großen Geburtstagsfeier. Voller Vorfreude, aber mit vielen Punkten auf der To-do-Liste, die jetzt, kurz bevor es losgeht, noch aufploppen. Rund 50 Baustellen hat es vor ein paar Tagen in und um Wittenberg gegeben, und nicht alle davon werden rechtzeitig verschwinden. „Aber alles, was sichtbar ist, wird fertig sein“, sagt Zugehör. Schließlich sei die Reformation auch ein Prozess gewesen, der mit dem Anschlagen der 95 Thesen erst begonnen habe. In den vergangenen Jahren hat sich eh schon viel getan. Die Kirchen, das Lutherhaus und Teile der Altstadt wurden saniert, der Hauptbahnhof zum deutschlandweit zweiten klimaneutralen Bahnhof umgebaut. Rund 100 Millionen Euro, so Zugehör, habe das Bundesland Sachsen-Anhalt für das Reformationsjubiläum und die damit zusammenhängenden Sanierungen dazugegeben. Auch aus der EU flossen Fördermittel.

    Und was ist mit dem Thema Sicherheit?

    Aufgrund der Anwesenheit Obamas wird es ein großes Sicherheitsaufgebot geben.

    Ein Großaufgebot der Polizei, 5500 Freiwillige und 1300 medizinische Einsatzkräfte, sowie ein Sicherheitsunternehmen, sollen einen reibungslosen Ablauf garantieren.

    Bei großen Veranstaltungen wird es flächendeckend Taschenkontrollen geben.

    Einige Großveranstaltungen erhalten auch Barrieren zum Schutz vor LKW-Anschlägen.

    Kritik aus der Bevölkerung gibt es trotzdem. Menschen fragen sich: Wie beeinträchtigen so viele Gäste meinen Alltag? Wo finde ich noch einen Parkplatz? In einer Stadt, in der nur rund 15 Prozent der Bürger konfessionell gebunden sind, ist die Abwehrhaltung gegen alles, was mit Kirche zu tun hat, groß. „In der heutigen Zeit sind die Leute sowieso mehr dabei, herauszuarbeiten, was uns trennt, als was uns verbindet“, sagt Zugehör fast ein wenig resigniert. „Dabei hören Begriffe wie Mut, Freiheit und Toleranz doch nicht an der Kirchentür auf.“ Mit den Kritikern in Kontakt zu treten, sei deshalb wichtig. 2005 schon begann man, sich inhaltlich Gedanken über den Reformationssommer zu machen. Stadtgespräche – so heißt das Format, bei dem Verantwortliche und Wittenberger Bürger diskutieren – gab es in den vergangenen Jahren zuhauf.

    Die Stadt identifiziert sich mit Luther- und vermarktet ihn

    Mittlerweile ist es Mittag geworden. Auf der Bühne am Marktplatz ertönt plötzlich die sanfte Stimme des US-Musikers Chris Jones aus den Lautsprechern, begleitet von den Klängen einer Akustikgitarre. Sie verschluckt den Baulärm, das geschäftige Hämmern und Bohren, und sie verschluckt das Stimmengewirr der Touristengruppen. Für einen Moment liegt eine beinahe besinnliche Stimmung über der Stadt. In der Kirche St. Marien, der Mutterkirche der Reformation, von deren Kanzel Martin Luther seine revolutionären Predigten hielt und in der erstmals ein Gottesdienst in deutscher Sprache abgehalten wurde, beginnt das Mittagsgebet.

    Gemessen an der Gesamtbevölkerung gibt es heute in Wittenberg so wenige Christen wie in kaum einer anderen deutschen Stadt. Was nicht bedeutet, dass sich die Bürger nicht mit Luther identifizieren. So war die Empörung der Einwohner groß, als anlässlich der Weltausstellung Expo 2000 die Statue „ihres“ Luthers nach Hannover ausgeliehen werden sollte. „Die sollen herkommen, wenn sie was sehen wollen“, hieß es damals. Oder: den Zusatz „Lutherstadt“ aus dem amtlichen Stadtnamen zu entfernen – undenkbar.

    Die Reformation begann mit dem überlieferten Thesenanschlag von Martin Luther vor 500 Jahren in Wittenberg.
    Die Reformation begann mit dem überlieferten Thesenanschlag von Martin Luther vor 500 Jahren in Wittenberg. Foto: Peter Gercke/dpa-Zentralbild/dpa

    Darüber hinaus wissen die Wittenberger Luther auch zu vermarkten. In den Schaufenstern der Geschäfte bekommen Besucher Luther-Pralinen für 2,50 Euro das Stück angeboten. Es gibt Luther-Bier, Reformationsbrötchen, Tassen oder – etwas hipper – Jutebeutel mit Luthers sonnenbebrilltem Porträt. Gegessen werden Luther-Burger, „Lutherbrodt“ oder Luther-Tomaten. Es sei ja schön für Wittenberg, dass so viele Touristen kommen, sagt der Verkäufer, der seine Luther-Tomaten am Marktplatz anbietet. Aber sich das Ganze mal selbst anschauen? „Keine Zeit“ brummt er. Eine Antwort, wie sie aus den Mündern vieler Wittenberger kommt. Es gibt aber auch andere Stimmen. „Ich bin ganz ehrlich, ich bin nicht gläubig“, sagt die Verkäuferin einer Chocolaterie und stemmt die Hände in die Hüften. Dann strahlt sie. „Aber wahnsinnig aufgeregt bin ich trotzdem. Das muss man sich mal überlegen, andere kommen von was weiß ich wo- her, und wir sind mittendrin! So etwas erlebt man nur einmal im Leben.“ Die Konsequenz ist: Anstelle eines Sommerurlaubs gibt es in diesem Jahr eine Jahreskarte für den Reformationssommer. Eine Riesenchance sei das alles für die Stadt.

    Sie ist nicht die Einzige, die dem historischen Ereignis inzwischen mit Spannung entgegenblickt. Hier wird Geschichte geschrieben, heißt es. Wenn Johannes Block, Pfarrer der Stadtkirchengemeinde, sein Pfarrhaus verlässt, die wenigen Meter bis zum Marktplatz geht und dabei sieht, wie präsent Luther hier heute noch ist, dann verspürt er eine beinahe diebische Freude. „Die kirchlich entwöhnte Bürgerschaft soll sehen, dass wir keine Mittelalterkirche mehr sind“, sagt er.

    Parallelen zwischen 1517 und 2017

    Und doch: Die zwei Diktaturen, die braune und die rote, während derer die Kirche erst als zu wenig deutschnational und dann als unwissenschaftlich dargestellt worden sei, hätten ihre Spuren hinterlassen, sagt Block. „Früher haben die Menschen mit der Reformation gelebt, heute leben sie von der Reformation.“ Als Gastronom, als Stadtführer oder Taxifahrer. 6000 bis 8000 Besucher werden den Sommer über pro Tag erwartet.

    Ein bisschen weht er dann doch durch Wittenberg, der Geist der Reformation. Und auch Parallelen zwischen den Jahren 1517 und 2017 gebe es: „Bildung, Toleranz, das Einbeziehen der einfachen Bürger“, zählt Oberbürgermeister Zugehör auf. Als Beispiel nennt er Europa: Man wünscht sich die EU, aber doch sei vieles zu weit weg, um es zu verstehen, die Regeln kommen aus der Ferne. „Die Besinnung auf das Wesentliche, das wollte Luther.“ Und: Luther habe mit seiner Gnadenlehre Sicherheit ins dunkelste Mittelalter gebracht, das von der ständigen Angst vor dem Fegefeuer geprägt war. Eine Verunsicherung der Bevölkerung, ergänzt Pfarrer Block schließlich noch, spüre er auch in der heutigen Gesellschaft.

    Dann also steht vor der Schlosskirche Christine Schajka aus Frankfurt, und sie ist verliebt. „Unheimlich toll hier“, sagt sie. „Ich habe schon die Immobilien angeschaut, ich glaube, ich miete mich hier ein.“ In einer Stadt, die vielleicht nicht mehr Luthers revolutionären Geist versprüht. Aber die doch fest mit ihm verbunden ist.

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