Martin Schwenninger schaut skeptisch. Mit der linken Hand stützt sich der Ranger an einer Felswand der Wutachschlucht, die zwischen Freiburg und Konstanz liegt, ab. Mit seinem rechten Fuß prüft er die Wegfestigkeit. Ein Wanderer hatte eine gefährliche Stelle gemeldet. Wer hier stolpert und stürzt, fällt tief.
„Wege bleiben schlammig und sehr rutschig“, twittert Schwenninger an diesem Oktobertag. Seine Beiträge erscheinen auch auf der Homepage der Wutachschlucht im Naturpark Südlicher Schwarzwald. Etwa 100.000 Menschen gehen jährlich durch die Schlucht. Die Corona-Pandemie führte dazu, dass besonders viele in die Natur wollten, und es zeitweise richtig voll wurde.
Ein Beamter sagt zum Verschwinden von Scarlett S.: "Wir haben alles Menschenmögliche getan."
An einem Ende des Schluchtensteigs, irgendwo in der Nähe von Todtmoos, soll am 10. September eine 26-jährige Wanderin aus dem nordrhein-westfälischen Bad Lippspringe spurlos verschwunden sein: Scarlett S.. Die Polizei hat die Suche nach ihr inzwischen eingestellt, selbst aufwendige Suchaktionen nach der fitten und gut ausgerüsteten Studentin waren erfolglos geblieben. Bei der Polizei in Freiburg ist man am Sonntag hörbar betroffen. „Leider gibt es nichts Neues“, sagt ein Beamter. „Wir haben alles Menschenmögliche getan und sind jedem Hinweis nachgegangen.“ Einem Medienbericht zufolge bot gar ein „Seher“ der Polizei seine Hilfe an, er habe Eingebungen durch seine innere Stimme erhalten. Zudem habe sich, so hieß es, ein Anwender eines Pendels gemeldet.
Die Polizei geht von einem Unglück aus. Was naheliegt, denn bei Scarlett S. handelt es sich nicht um einen Einzelfall. Zwischen ein und zwei Dutzend größere Sucheinsätze nach Vermissten verzeichnet die Bergwacht Schwarzwald jährlich. Dass Menschen spurlos verschwinden, kommt selten vor.
Genaue Statistiken führt die Bergwacht nicht. Manche, die Opfer eines Unglücks wurden oder nicht mehr leben wollten, werden erst Wochen oder Monate danach entdeckt. Lothar Schmidt von der Bergwacht-Ortsgruppe Wutach war bei vielen solcher Einsätze dabei. Er erzählt von einem übermütigen Teenager, der auf einem Brückengeländer über der Schlucht balancierte und abstürzte; von einem Radler, den sie mitsamt seines E-Bikes aus der Tiefe holen mussten; von einer Frau, die auf einem gesperrten Weg in eine Schlammlawine geriet; von abgestürzten Hunden. Sogar ein Pferd musste er einmal retten. Der Reiter war auf einer Brücke eingebrochen. Dabei ist das Naturschutzgebiet für Biker und Kletterer gesperrt – für Reiter und Pferde ebenso.
Immer wieder kommt es in der Wutachschlucht zu Unglücksfällen
Auch das Verlassen der Wege ist verboten. Aber gegen Leichtsinn und Selbstüberschätzung helfen keine Verbotsschilder. „Manchmal fragt man sich schon, was sich die Menschen denken“, sagt Schmidt. „Wir hatten auch mal eine Warnmeldung über einen Blinden, der allein unterwegs war und Wanderer nach dem Weg fragte. Der wurde mit großem Einsatz gesucht, ohne Erfolg. Am nächsten Tag meldete er sich, er war allein und unversehrt wieder heimgekommen.“
Der 59-jährige Lothar Schmidt kennt die Wutachschlucht seit seiner Kindheit. Wie kaum ein anderer bekam er mit, wie sich das Gebiet veränderte – die Wege, die Besucher, deren Ausrüstung und deren Erwartungen. „Heute sind viele Familien mit Kindern unterwegs, junge Menschen, Tagesausflügler, Rucksackwanderer, Trailrunner.“ Nur noch wenige gingen mit Sandalen oder Pumps in die Schlucht.
Gefährlich ist es geblieben: Steinschlag, Baumsturz, Astbruch, Erdrutsche. „Viele denken, sie seien hier im einfachen Mittelgebirge unterwegs. Dabei gibt es alpine Abschnitte. Sie unterschätzen die Schwierigkeit des Geländes, trinken und essen zu wenig, sind unterzuckert, dehydriert. Dann schwinden Konzentration und Kräfte, die Trittsicherheit, sie stürzen, stolpern, rutschen ab“, sagt Ranger Martin Schwenninger. „Im Dunkeln wird es richtig gefährlich.“ Seit 16 Jahren ist er hier im Dienst, die Wegführung des Schluchtensteigs hat er mitentwickelt. In 30 bis zu 50 Prozent des Gebiets, ergänzt Lothar Schmidt von der Bergwacht, gebe es kein Handynetz.
Scarlett S.? „Zumachen kann man nicht“, sagt Schwenninger. „Die Menschen sollten die Warnungen ernst nehmen.“ (mit wida)