Startseite
Icon Pfeil nach unten
Panorama
Icon Pfeil nach unten

20. Jahrestag Fährunglück: Untergang der Estonia: Die Wahrheit liegt am Meeresgrund

20. Jahrestag Fährunglück

Untergang der Estonia: Die Wahrheit liegt am Meeresgrund

    • |
    Die estnische Ostseefähre Estonia in den Docks von Tallinn (undatiertes Archivbild). Im Jahr 1994 havarierte die estnische Ostsee-Fähre «Estonia» vor der Südküste Finnlands.
    Die estnische Ostseefähre Estonia in den Docks von Tallinn (undatiertes Archivbild). Im Jahr 1994 havarierte die estnische Ostsee-Fähre «Estonia» vor der Südküste Finnlands. Foto: Li Samuelson dpa

    Vor 20 Jahren ist die Fähre Estonia in der Ostsee untergegangen. Für 852 Passagiere kam jede Hilfe zu spät. Sie starben beim größten Schiffsunglück in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Bilder der Unglücksnacht kann Marge Rull nicht vergessen. 20 Jahre, nachdem die Estin mit der "Estonia" auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm vor der Südküste Finnlands verunglückt ist, ist die Erinnerung an den 28. September 1994 allgegenwärtig. Als 25-Jährige konnte sie sich beim Untergang der unter schwedischer und estnischer Flagge fahrenden Fähre retten.

    20. Jahrestag der Estonia-Katastrophe

    "Ich fühlte und hörte, wie die Wellen gegen das Schiff schlagen", schildert Rull in einem neu erschienen Buch zum 20. Jahrestag der Katastrophe. "Als sich das Schiff innerhalb weniger Augenblicke nach rechts neigte, sprang ich sofort aus dem Bett. Und als sich das Schiff bei etwa 20 Grad Neigung stabilisierte, war das wie ein Startschuss für mich. Ich dachte, ich muss hier raus."

    Die schlimmsten Schiffsunglücke

    Titanic, Estonia, Sewol: Schiffsunglücke fordern oft hunderte Menschenleben. Eine - unvollständiger - Überblick über die größten Katastrophen:

    16.12.1900: Gneisenau Sie war ein deutsches Segel-Schulschiff. Das tragische Unglück ereignete sich im Hafen von Malaga. Über 40 junge Menschen und mindestens 12 spanische Retter starben, als das Schiff vom Sturm gegen die Mole getrieben wurde und im Meer versank.

    15.06.1904: General Slocum Deutsche Einwanderer charterten den Raddampfer "General Slocom" und machten einen Ausflug auf dem East River in New York. Als das Schiff Feuer fängt, bricht Panik aus. Mehr als 1000 Menschen fanden den Erstickungstod oder ertranken.

    12.03.1907: Panzerschiff Iéna Das französische Schiff lag vor Toulon, als plötzlich die Pulverkammer explodierte. 120 Mitglieder der Besatzung starben, 150 weitere wurden zum Teil schwer verletzt.

    15.04.1912: Titanic Das wohl berühmteste Schiffsunglück ist der Untergang der "unsinkbaren" Titanic. Sie befand sich auf ihrer Jungfernfahrt nach New York und rammte einen Eisberg. Nach 2 Stunden und 40 Minuten war sie untergegangen und hatte um die 1500 Menschen in den Tod gerissen. Gerade einmal 700 überlebten die Katastrophe.

    29.05.1914: Empress of Ireland Der irische Luxusliner prallte im St. Lorenz Strom mit dem norwegischen Kohlendampfer "Storstad" zusammen. Die Empress of Ireland geht unter. Rund 1000 Passagiere fanden den Tod.

    06.12.1917: Mont Blanc & Imo Die Mont Blanc war ein französisches Munitionsschiff. Im Hafen von Hallifax kollidierte sie mit dem belgischen Frachter "Imo". Die Munition explodierte und weite Teile der Stadt wurden vernichtet. An die 2000 Menschen kamen dabei ums Leben, zahlreiche wurden schwer verletzt.

    26.10.1927: Principessa Mafalda 1200 Menschen blickten hoffnungsfroh in die Zukunft, als sie 1927 auf einem Schiff Italien verließen, um woanders ein neues Leben zu beginnen. 314 von ihnen starben, als die Principessa Mafalda vor der brasilianischen Küste unterging.

    14.06.1931: Saint-Philibert Als das Ausflugsdampfer in der Loire-Mündung versank, verloren mehr als 500 Passagiere ihr Leben.

    21.09.1957: Pamir Das deutsche Segel-Schulschiff gerät westlich der Azoren in einen Sturm und kann den Urgewalten nicht standhalten. 80 Besatzungsmitglieder fanden den Tod. Nur sechs Mann blieben am Leben.

    23.01.1977: Lucona Das Frachtschiff versank im Indischen Ozean, zunächst ohne ersichtlichen Grund. Später fand man heraus, dass es mitsamt der Besatzung absichtlich versenkt wurde. Udo Proksch, dem die Wiener Konditorei "Demel" gehört, wollte auf diese Weise seine Versicherung betrügen.

    16.03.1978: Amoco Cadiz Der Öltanker havarierte vor der nordfranzösischen Küste. Über 200 Kilometer entlang der Strandlinie wurden verheerende Umweltschäden verursacht.

    13.12.1978: MS München Das deutsche Frachtschiff ist samt der 28-köpfigen Crew bis heute verschwunden. Es geriet nördlich der Azoren in einen gewaltigen Sturm und sendete Notsignale. Eine internationale Rettungsaktion blieb erfolglos.

    11.08.1979: Admirals Cup Der Admirals Cup ist eine Hochsee-Regatta. Ein Teil davon ist das Fastnet Race von Südengland nach Irland und zurück. 1979 wurde das Regattafeld von einem Orkan heimgesucht. Mehr als 300 Schiffe waren in Gefahr. 19 Menschen kamen um.

    06.03.1987: Herald of Free Enterprise Auf dem Fährschiff starben knapp 200 Passagiere. Es versank kurz nachdem es vom belgischen Hafen losgefahren war. Um schneller ablegen zu können, wurde das Bugtor erst unterwegs geschlossen.

    28.09.1994: Estonia Die Estonia war nach Stockholm unterwegs, als plötzlich die Bugklappe abgerissen wurde. Das Schiff läuft sofort voll. Mehr als 850 Menschen sterben. Bis heute sind die genauen Umstände der Katastrophe nicht geklärt.

    03.02.2006: Al Salam Boccaccio 98 Als auf der ägyptischen Fähre Feuer ausbricht, beginnt das Schiff zu sinken. Die Ursachen sind nicht bekannt, aber wahrscheinlich hat das Löschwasser die Fähre zum Kentern gebracht. Ungefähr 1000 Passagiere finden im Roten Meer ihren Tod.

    Als sie es aus ihrer Kabine geschafft hatte, flüchtete Rull auf das Außendeck. Wegen der Schieflage des Schiffes verlor sie mehrfach den Boden unter den Füßen und stürzte tief. Dennoch schaffte es die damals als Tänzerin auf dem Schiff angestellte Frau nach oben zu gelangen und sich später auf eine der Rettungsinseln zu retten.

    Ostsee-Fähre sinkt innerhalb einer Stunde

    Bei stürmischem Wind und stark aufgewühlter See kentert und sinkt die mehrere Tonnen schwere Fähre innerhalb von nur einer Stunde in den Fluten der Ostsee. Als die Rettungsaktion von Finnland aus anläuft, ist es für die meisten Passagiere und Besatzungsmitglieder zu spät - sie ertrinken im untergehenden Schiff oder erfrieren im kalten Wasser. Nur 137 Personen überleben das Unglück.

    Im ihrem Bericht machte die viel kritisierte Untersuchungskommission ein falsch konstruiertes Bugvisier und seemännische Fehler der vor allem estnischen Besatzung als wichtigste Ursachen dafür aus, dass die 1980 vom Stapel der Papenburger Meyer-Werft gelaufene Fähre so schnell sinken konnte. Doch die Spekulationen um den Untergang, über den ein Kinofilm produziert wurde, haben bis heute nicht aufgehört.

    Unstrittig ist, dass die Bugklappe des 157 Meter langen Schiffes sich auf offener See öffnete und abriss, wodurch Unmengen Wasser schnell und ungehindert ins Autodeck strömen konnten. Warum das aber passierte, ist nicht mit letzter Sicherheit festgestellt - trotz eines schier endlosen Hickhacks in diversen Kommissionen. Bei der Ursachensuche wiesen offizielle Stellen stets die Vermutung zurück, dass Sabotage oder eine Bombendetonation an Bord im Zusammenhang mit Militärtransporten der Auslöser gewesen sein könnten.

    Stiftung Estonia-Opfer und Angehörige

    Endgültige Klarheit mit juristischen Folgen für die Verantwortlichen gibt es auch nach zwei Jahrzehnten nicht. Die Überlebenden und Hinterbliebenen treibt dies heute noch um. "Wir wollen herausfinden, was geschehen ist", sagt der Vorsitzende der Stiftung Estonia-Opfer und Angehörige in Schweden, Lennart Berglund. "Die Eltern meiner Frau waren damals an Bord." 501 der Opfer kamen aus Schweden und 232 aus Estland. Auch einige Deutsche waren unter den Toten. 

    Trotz einer Estonia-Gruppe, die sich im schwedischen Parlament mit dem Fall beschäftigt, bekämen die Betroffenen im Reichstag bis heute keine Antwort. Auch bei der Schifffahrtsbehörde und der Behörde für Unfalluntersuchungen laufen derzeit keine Nachforschungen mehr. Auch in die ersten Ermittlungen seien die Überlebenden nicht einbezogen worden, erzählt Berglund. "Darüber sind sie sehr verärgert."

    Abgerissene Bugklappe

    Die abgerissene Bugklappe war das Einzige, das nach dem Untergang von der "Estonia" geborgen wurde. Die schwedische Regierung löste trotz wiederholter Forderungen der Hinterbliebenen weder ihr Versprechen zur Hebung des Schiffes noch zur Bergung der Leichen aus dem Wrack ein. Stattdessen wurde die "Estonia" per Gesetz zur Grabstätte für die dort wahrscheinlich etwa 700 eingeschlossenen Opfer erklärt. Neue Pläne, das Schiff zu heben, gibt es nach Angaben des schwedischen Verteidigungsministeriums nicht. Die Behörden weigerten sich, "irgendetwas aus dem Wrack hochzuholen", meint Berglund. 

    Nach der Havarie gab es tiefe Umwälzungen in der Branche. So wurden etwa die Anforderungen an die Konstruktion der Schiffe verschärft. Das habe die Sicherheit auf See deutlich verbessert, sagt Markku Mylly, Leiter der Europäischen Agentur für Meeressicherheit. 

    Auch das estnische Schifffahrtsamt betont, dass der Fährverkehr auf der Ostsee sicher sei. Doch René Allik von der estnischen Polizei- und Grenzschutzbehörde warnt, dass auf dem kleinen und flachen Meer mit hoher Verkehrsdichte eine erhöhte Unfallgefahr bestehe: "Es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis wieder etwas passiert." dpa/AZ

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden