Herr Dangendorf, Sie erforschen an der Universität Siegen den Anstieg des Meeresspiegels. Wissenschaftler der Universität von Colorado in den USA prognostizierten jetzt, dass dieser bis zum Jahr 2100 um 65 Zentimeter ansteigen wird – das ist doppelt so stark wie bisher angenommen. Schockiert Sie diese Zahl?
Sönke Dangendorf: Die Zahlen haben mich nicht schockiert, sondern bestätigen lediglich, was in der Wissenschaft seit vielen Jahren Konsens ist. Die Kollegen haben in ihrer Studie keine direkten Zukunftsprognosen abgegeben, sondern sich die neuesten Messdaten aus Satellitenmessungen über die vergangenen 25 Jahre angeschaut. Sie stellten fest, dass der Meeresspiegel seit den 90er Jahren mit einer Geschwindigkeit von rund drei Zentimetern pro Dekade gestiegen ist und sich dieser Anstieg dabei über die Zeit beschleunigt hat.
Was ist der Unterschied zwischen dieser Studie und einer echten Zukunftsprognose?
Dangendorf: Zukunftsprognosen oder sogenannte Projektionen erfordern die Nutzung komplexer Klimamodelle. Sie wurden beispielsweise 2013 vom Weltklimarat IPCC veröffentlicht und gehen bei ungeminderten Emissionen sogar von einem Anstieg von etwa 52 bis 98 Zentimetern bis 2100 aus.
Welche Erdregionen sind besonders gefährdet?
Dangendorf: Die größten Meeresspiegel-Änderungen sind in den tropischen Regionen und entlang der Ostküste Nordamerikas zu erwarten, da sich dort die Wassermassen besonders konzentrieren. Durch ihren finanziellen und technologischen Vorsprung werden die amerikanischen Staaten jedoch erheblich mehr Handlungspotenzial haben als beispielsweise kleine Inselstaaten im Pazifik.
Der Anstieg des Meeresspiegels führt zu heftigeren Sturmfluten
Welche Gebiete sind in Deutschland vor allem bedroht?
Dangendorf: Der Anstieg bedroht vor allem die tief liegenden Gebiete in Niedersachsen und Schleswig-Holstein und die vorgelagerten Inseln wie Sylt oder die Halligen. Durch den steigenden Meeresspiegel laufen Sturmfluten immer höher auf und sorgen für erhebliche Erosionen an Stränden und Dünen. Ebenso wird bei steigenden Pegeln die Ableitung von Wassermassen aus dem Inland ins Meer immer mehr zum Problem.
Können die Menschen an der Küste in Zukunft noch leben wie bisher, wenn das Meer so schnell steigt?
Dangendorf: Generell haben wir in Deutschland einen sehr gut funktionierenden Küstenschutz, der in vielen Bereichen bereits einen Meeresspiegel-Anstieg von mehreren Dezimetern berücksichtigt. Sollte der Meeresspiegel tatsächlich bis 2100 um 65 Zentimeter oder mehr ansteigen, werden wir flexible Handlungsstrategien benötigen. Schleswig-Holstein geht mit gutem Beispiel voran und baut seit geraumer Zeit sogenannte Klimadeiche. Sie sind so konzipiert, dass sie im Fall eines schnelleren Meeresspiegel-Anstiegs einfach auf ein höheres Niveau angepasst werden können.
Meeresspiegel macht neue Baukonzepte nötig
Sind normale Häuser – womöglich mit Keller – dann noch die richtige Wohnform? Die Stiftung Küstenschutz Sylt etwa spricht schon von Hausbooten, die nötig werden.
Dangendorf: Zum Schutz vor dem Anstieg des Meeresspiegels gehören auch neue Konzepte, die Häuser auf Stelzen oder im schlimmsten Fall Rückzugsoptionen für die Menschen beinhalten.
Sind noch mehr Vorkehrungen nötig, um für den Anstieg gewappnet zu sein?
Dangendorf: Wir müssen pünktlich auf unvorhergesehene Entwicklungen reagieren können – zum Beispiel ein schnelleres Abschmelzen der Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis. Dafür brauchen wir einen stetigen Austausch zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis.