Dort drüben im Mietwagen sitzt ein Dealer, er hat ihn sofort erkannt. „Von früheren Festnahmen“, sagt William Felt, während er seinen Wagen langsam über die holprige Straße steuert. Draußen dämmert es, die Luft ist noch warm, es war für Herbst ein ungewöhnlich heißer Tag in Ashtabula im Nordosten Ohios. Der Polizist fährt vorbei an eingezäunten Wohnanlagen und verrosteten Spielgeräten. Er passiert ein Pflegeheim, das leer steht, seit darin ein Meth-Labor in die Luft flog und das Haus in Brand setzte. „Methamphetamin war ein großes Problem hier“, sagt er. „Aber innerhalb von sechs Monaten hatte jeder in der Drogen-Community nur noch Heroin. Das war so etwa Ende 2015. Jeder hatte Heroin.“ So nahm das Unheil seinen Lauf.
Felt kämpft an vorderster Front gegen eine beispiellose Sucht-Epidemie. Es geht um Opioide; dazu gehören Heroin, aber auch Schmerzmedikamente wie Oxycodon. Präsident Donald Trump hat gerade wegen des dramatischen Ausmaßes einen Gesundheitsnotstand verhängt, um den besonders betroffenen Bundesstaaten zu helfen. Was bedeutet: Man kann Geld aus einem Sondertopf des Gesundheitsministeriums schöpfen. Das Problem ist nur, dass dieser Topf ziemlich leer ist. Trump will nun bis Jahresende ein Programm zur Bekämpfung der Krise ausarbeiten und eine Kampagne starten lassen.
Felt gehört zu einer Sondereinheit, die sich um Drogenkriminalität in Ashtabula County kümmert, einem Bezirk am Eriesee mit knapp 99.000 Menschen. Fast täglich haben es der 46-Jährige und seine Kollegen mit einer Heroin-Überdosis zu tun. 270 waren es in diesem Jahr schon, 29 davon endeten tödlich. In anderen Gegenden sind es noch mehr. Jedes Mal, wenn jemand irgendwo gefunden wird, bekommt Felt eine Nachricht aufs Handy. Wenn Tote darunter sind, fährt er selbst raus.
Seit 18 Jahren ist er Polizist, vorher war er in der Armee und in den achtziger Jahren in Deutschland stationiert. Felt hat die Haare zu einem Bürstenschnitt geschoren, den linken Arm ziert ein Drachen-Tattoo. Er neigt nicht zu Übertreibungen, er wählt seine Worte mit Bedacht. Aber das, was gerade in Ashtabula passiert, frustriert ihn sichtlich.
Der Mann fährt durch die Straßen der 18.000-Einwohner-Stadt, zeigt auf Wohnhäuser und Geschäfte, spricht über Razzien und Tote, und fast immer hat es mit Heroin zu tun. Die Tankstelle, in der Dealer auf Kunden warten. Der McDonald’s gegenüber, auf dessen Parkplatz sich die Abhängigen zurückziehen, um sich die Droge zu spritzen. Die Bücherei, vor der jetzt abends eine Streife parkt, weil es dort zu so vielen Überdosen kam. Das Apartment, in der sie eine Frau fanden, die schon einen Tag tot war. Ihr Baby lag im Bett.
Manchmal, wenn Felt und seine Kollegen Häuser durchsuchen, können sie sich kaum bewegen, so vermüllt ist es dort. Er erzählt von zwei Kindern, sechs und elf Jahre alt, die mit im Haus waren, als der Vater Heroin verkaufte. „Wir haben bei ihnen einen Drogentest machen lassen, um auszuschließen, dass sie nicht unwissentlich Heroin genommen haben.“
Am Anfang ist das Schmerzmedikament
Es ist das hässliche Gesicht einer Epidemie, die von New Hampshire über Ohio bis nach Kentucky ganze Landstriche im Griff hat und jeden Tag im Schnitt 91 Opfer fordert. Bei 40 von ihnen sind nicht einmal Heroin oder andere illegale Rauschgifte die Ursache, sondern verschreibungspflichtige Medikamente. Obwohl Untersuchungen zeigen, dass Schmerzen bei Amerikanern heute nicht weiter verbreitet sind als im Jahr 1999, werden dreimal so viele Schmerzmittel verschrieben wie damals. Viele sind starke Opioide, die im Gehirn ähnlich funktionieren wie Morphium und sehr schnell süchtig machen. Und wenn dann der Arzt kein Rezept mehr ausstellt, die Sucht aber schon zugeschlagen hat, greifen die Konsumenten zu illegalen Drogen.
Im vergangenen Jahr sind in den USA fast 20 Prozent mehr Menschen an Rauschgiften gestorben als im Jahr zuvor. Die Überdosis ist inzwischen die häufigste Todesursache für Amerikaner unter 50 Jahren. Und: In Amerika leben zwar viermal so viele Menschen wie in Deutschland, die Todeszahlen sind in den Vereinigten Staaten aber mehr als 40-mal so hoch.
Die Krise kennt keine sozialen Grenzen, kein Alter, keine Postleitzahlen. Die, die gegen sie ankämpfen, sagen, dass so ziemlich alle Teile der Gesellschaft betroffen sind. Schätzungen zufolge sind in den USA zwei Millionen Menschen von Opioiden abhängig. Besonders schlimm ist es in strukturschwachen Regionen im Rust Belt, der Industrieregion entlang der Großen Seen, oder den Appalachen im Osten. Arme Gegenden, die für den Abstieg der Mittelschicht stehen. Gegenden, in denen Donald Trump viele Anhänger fand.
Es ist ein Drama in drei Akten. Erst waren es Schmerzmittel wie Oxycodon oder Hydrocodon. Dann kam das Heroin. Und seit einiger Zeit sind es starke synthetische Mittel wie Fentanyl oder Carfentanyl, die für etliche Todesfälle verantwortlich sind. Viele Abhängige sind über Oxycodon oder andere verschreibungspflichtige Medikamente in die Sucht gerutscht. Die Mittel sind vom chemischen Aufbau her eng mit Heroin verwandt. Seit den Neunzigern wurden sie in den USA sehr freizügig verschrieben. Nicht nur nach schweren Operationen, sondern zum Beispiel schon bei Knieschmerzen. Studien hatten Hinweise geliefert, dass die Suchtgefahr gar nicht so groß sei. Das ist inzwischen widerlegt.
Wie zynisch: Heroin ist oft die billigere Variante
Eine der vielen traurigen Seltsamkeiten dieser Geschichte ist, dass viele Süchtige auf Heroin umgestiegen sind, weil es oft der billigere Weg in die selig-dumpfe Wattewelt des Opioid-Rausches ist. Während eine einzelne Oxy-Pille auf dem Schwarzmarkt schon mal 50 Dollar kostet, gibt es die Dosis Heroin schon für zehn oder 20 Dollar.
In manchen Gegenden ist es so schlimm, dass die Behörden ungewöhnliche Wege beschreiten. In Canton in Ohio etwa musste der örtliche Gerichtsmediziner im März einen Kühltransporter anmieten. Es hatte zu viele Tote auf einmal gegeben, die Hälfte von ihnen war an einer Überdosis gestorben. Oder die Bücherei in Philadelphia, wo die Bibliothekare darin geschult werden, wie sie einem Bewusstlosen das Gegenmittel Naloxon verabreichen.
Bei einer Opioid-Überdosis verlangsamt sich der Atem so sehr, dass nicht mehr genügend Sauerstoff ins Gehirn kommt. Es kann zum Atemstillstand kommen. Naloxon, das in den USA weitläufig unter seinem Markennamen Narcan bekannt ist, blockiert die entsprechenden Rezeptoren im Gehirn, sodass die Wirkung des Opioids aussetzt.
Innerhalb von Sekunden kann das Mittel Leben retten, aber es ist umstritten. Manche Sheriffs wollen nicht, dass ihre Leute es bei sich tragen. Weil sie finden, dass das nicht die Aufgabe der Polizisten sei. Oder weil sie um ihre Sicherheit fürchten.
William Felt hat immer eine Dosis Narcan in seiner Tasche. Einmal, im April oder Mai, habe er einer Frau auf dem Parkplatz der Bücherei so das Leben gerettet, erzählt er. Sie lag auf dem Rücksitz ihres Autos, die Türen standen offen. Am helllichten Tag. Das gehört in Städten wie Ashtabula inzwischen zum Alltag. An einem Tag Ende September hatten sie im County 16 Überdosis-Fälle, am nächsten Tag noch einmal zwei. Dann nahmen sie eine Dealerin hoch, sie hatte mit Fentanyl gemischtes Heroin verkauft. Das synthetische Opioid ist etwa hundertmal so stark wie Morphin, deshalb ist die Gefahr einer Überdosierung so viel größer. Es wird als Schmerzmittel etwa für Krebspatienten und bei Narkosen verwendet. Aber die vielen Missbrauchsfälle haben mit illegal hergestelltem Fentanyl zu tun, das aus China oder Mexiko in die USA kommt, oft über den Postweg.
Noch größeres Kopfzerbrechen bereitet den Behörden seit einiger Zeit Carfentanyl, ein Mittel, das ursprünglich entwickelt wurde, um Elefanten und andere große Tiere zu betäuben. Es ist noch einmal hundertmal stärker als Fentanyl. Schon eine winzige Menge kann tödlich sein. Selbst die Berührung ist gefährlich.
Reba McCray war früher süchtig. Jetzt leitet sie die Therapie-Einrichtung
Akron liegt eineinhalb Autostunden südwestlich von Ashtabula. Im Süden der rund 197.000 Einwohner zählenden Stadt liegt eine Strafanstalt für Frauen, die auf Abhängige spezialisiert ist. Sie sollen hier lernen, wieder ins Leben zu finden. Sich um ihre Kinder zu kümmern, eine Wohnung zu finden, von den Drogen wegzukommen. Nicht immer klappt das, es gibt Rückfälle, manche Frauen kommen ein zweites Mal. „Man denkt dann schon, dass es natürlich scheiße ist, dass sie wieder da sind“, sagt Jennifer Cross, die Leiterin des Programms. „Aber ich denke dann auch oft, Gott sei Dank, hier drinnen in unserer Obhut sind sie wenigstens sicher.“
So ist die Lage in Deutschland
Verordnung: Auch in Deutschland sind die von Ärzten verordneten Opioide sprunghaft gestiegen – laut dem „Jahrbuch Sucht 2017“ der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen um knapp ein Drittel zwischen 2006 und 2015. „All diese Mittel haben ein hohes Abhängigkeits- oder zumindest Missbrauchspotenzial“, schreibt darin der Arzneimittel-Experte Gerd Glaeske von der Universität Bremen. Demnach werde die Zahl der Abhängigen von stark wirksamen Schmerzmitteln in Deutschland auf 200.000 bis 300.000 Menschen geschätzt.
Einsatz: Opioide seien „notwendige Medikamente“, wenn es etwa um schmerzarmes Operieren geht, sagt die Fachärztin für Anästhesie, Corinna Schilling. Auch in der Versorgung von Tumorpatienten und als kurzzeitige Therapie seien die Mittel unumstritten. Glaeske kritisiert, dass sie als „Pflastertherapie oftmals zu schnell und zu hoch dosiert“ bei Menschen mit Rückenschmerzen oder Schmerzen durch Osteoporose eingesetzt würden.
Synthetische Mittel: Der Missbrauch der Opioide Fentanyl und Carfentanyl ist in Deutschland deutlich weniger ausgeprägt als in den Vereinigten Staaten. Laut der Zeitung Die Welt steigen aber auch hier die Zahlen. 2016 seien 96 Todesfälle durch Fentanyl gezählt worden, neun mehr als 2015. (dpa, AZ)
Reba McCray hat die Sucht hinter sich gelassen. Jahrzehntelang war sie von Opioiden abhängig, zuletzt von Heroin, erzählt die 54-Jährige. Seit neun Jahren ist sie runter davon, seit dem 24. September 2008. Das Datum weiß sie auswendig. McCray ist inzwischen Direktorin der Therapie-Einrichtung, die ihr einst selbst half. Aber wenn sie von sich selbst spricht, dann sagt sie, sie sei immer noch „in recovery“ – im Prozess der Heilung.
Als sie vor einiger Zeit operiert wurde, hat ihr der Arzt Schmerzmittel verschrieben. „Ich habe die Tabletten drei Tage lang genommen. Am dritten Tag habe ich nach drei Stunden gedacht: Kann ich die nächste nehmen? Danach habe ich sie weggeschmissen. Es hat mich ein bisschen verrückt gemacht.“
Der Bundesstaat Ohio hat gerade neue Richtlinien zur Verschreibung opioidhaltiger Medikamente erlassen. Bei akuten Schmerzen dürfen diese nun nicht länger als sieben Tage verschrieben werden. Ein richtiger Schritt, sagen manche Beobachter. Aber er komme zu spät.
So kämpfen Leute wie William Felt weiter gegen die Krise. Für heute aber ist genug. Felt hat Feierabend. Sein Handy bleibt stumm. Ein Tag ohne Überdosis. mit dpa