Als im September 2001 zwei Flugzeuge die Zwillingstürme von Manhattan durchbohrten, fuhr Bruce Springsteen aus New Jersey die Küste hoch und schaute auf die rauchende Metropole. Ein Fan, der ihn erkannte, sprach ihn aus seinem Auto heraus an. „Bruce, wir brauchen dich!“ meinte er.
Der Sänger nickte, fuhr zurück in sein Haus, vergrub sich darin, schrieb neue Lieder und gab damit seiner Nation Mut und Hoffnung. Er trat als Kraftpaket auf und sang „This Land Is Your Land“ – ein Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen, der nicht unterzukriegen war, dessen Konzerte im Schnitt vier Stunden dauern und bei denen er sich bis zur völligen Erschöpfung verausgabte. Er ist, so in Amerika und darüber hinaus genannt, der Boss.
Springsteen: "Gift verpestete meine Gene"
Seine Autobiografie, die jetzt in allen wichtigen Sprachen und in Millionenauflage erschien, zeigt keinen Boss. Sondern einen von Furcht gepackten, schwermütigen Menschen: „Meine Depression sprudelt wie Öl aus einem lecken Tanker direkt in den wunderschönen türkisblauen Golf meiner sorgfältig geplanten Existenz“, schreibt Springsteen. Ein krudes Bild, aber eine offenbar ehrliche Aussage. Ein „manisch-depressiver Trapezkünstler“ sei er, „gemein, hässlich, Gift verpestete meine Gene“. Dann ein verzweifelter Satz, der seine Fans erschrecken dürfte: „Ich wollte vernichten, was mich liebte, weil ich es nicht ertragen konnte, geliebt zu werden.“
Sein Vater war schuld daran. „Er liebte mich, aber er konnte mich nicht ausstehen“ – so der Sohn nüchtern. Douglas Springsteen kämpfte im Krieg gegen die Deutschen, arbeitete danach in den Ford-Werken am Fließband. Die Familie lebte in Freehold, New Jersey, „im Schatten des Kirchturms, halbwegs verquer in Gottes Gnade“. Die Mutter war Sekretärin, von ihr bekommt er – wie von der Großmutter und den Schwestern – überströmende Liebe. Aber Bruce will kein Muttersöhnchen sein. Der Vater schweigt, säuft am Küchentisch. Manchmal schlägt er plötzlich zu. Wenn nicht, putzt er den Knaben runter: Er sieht in ihm einen Feind im eigenen Haus.
Schwieriges Verhältnis zum Vater
Erst als Jugendlicher versteht Bruce Springsteen, dass der Vater an einer Bipolaren Störung leidet, die ihm seine irische Familie als Erbe mitgab – schizophrene Schübe und Wahnvorstellungen. Erst als Jugendlicher begreift er auch, warum die italienischstämmige Mutter ihren Mann nicht aufgibt: Sie will ihm helfen. Auch der Sohn will das, doch bis zuletzt bleibt das Verhältnis schwierig. Als der Vater stirbt, trägt der Sohn ihn zu Grabe. „Dad“, spricht er den Leichnam an. „Dieser Mann dort auf der Bühne... Das bist du.“
Auf der Bühne schlüpfe er „quasi in die Kleidung des Vaters, eines Fabrikarbeiters“, bekennt Springsteen. Seine Gitarre ist sein Handwerkszeug – er weiß noch von allen Instrumenten, wann und wo er sie gekauft hat. Seine Gitarre von 1969 schleppt er durchs Leben wie einen alten Kumpel. Sein Thema ist Amerika, der Alltag, der Kampf, die Hoffnung, der Traum. Alle, die bis zur Drucklegung geglaubt hatten, Springsteen werde nicht weniger als das Buch zum amerikanischen Traum liefern, fühlen sich womöglich verprellt.
Depression als "gute alte Freundin"
Viel mehr geht es um „diese andere Sache“, um „eine gute alte Freundin“ – die Depression. Springsteen verknüpft seine Krankheit mit der Depression seiner Nation, dieser wie nie zuvor gespaltenen Gesellschaft.
Man erfährt in seinem Buch alles über seine Karriere, seine Songs, seine Performance, seine Frauen, seine Autos. Aber mehr noch von seinen Plagen, die er in „My Father’s House“ thematisiert hat. Der Boss ist krank. „Ich muss auf der Hut bleiben“, schreibt er.
Er wird niemals sicher sein, niemals irgendwo ankommen, wo seine Seele ruhen kann. Bruce Springsteen ist ein Getriebener. Doch auch ein solcher Mensch kann sich ein Image schaffen, das weltweit geachtet und bewundert wird.
Bruce Springsteen: Born to Run – Die Autobiografie, Verlag Heyne, München, 672 Seiten, 27,99 Euro.