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Tugce-Prozess: Die Heldin und die Bestie - doch so einfach ist es nicht

Tugce-Prozess

Die Heldin und die Bestie - doch so einfach ist es nicht

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    Kerzen und Fotos erinnerten im vergangenen November vor dem Klinikum in Offenbach am Main an Tugce: Am Dienstag steht das Urteil für den Angeklagten Sanel M. aus.
    Kerzen und Fotos erinnerten im vergangenen November vor dem Klinikum in Offenbach am Main an Tugce: Am Dienstag steht das Urteil für den Angeklagten Sanel M. aus. Foto: Boris Roessler (dpa)

    Er wagt es nicht, sich umzudrehen und den Eltern seines Opfers in die Augen zu schauen. „Das ist der schlimmste Fehler meines Lebens“, sagt Sanel M. und blickt nach vorne zur Richterbank. Kurze Stille, seine Stimme stockt, doch zittern tut sie bei seinen letzten Worten nicht. „Ich kann das nie wieder gutmachen. Ich kann nur sagen, dass es mir leidtut“, beteuert der 18-Jährige, der einen zerknitterten weißen Pullover trägt. Egal, wie der Prozess gegen ihn ausgehe, werde er immer damit leben müssen, dass seinetwegen ein Mensch tot ist – die Studentin Tugce Albayrak.

    Sanel M. gestand was die Überwachungskameras zeigten

    Sanel M. weint nicht am Tag der Plädoyers. Er schluchzt nicht wie noch am ersten Prozesstag, als ihn die Wucht der Situation, der restlos gefüllte Gerichtssaal, die Kameras, das Aufeinandertreffen mit Tugces Eltern und Brüdern sichtlich überforderten. Und als er neben Emotionen womöglich auch ehrliche Reue für eine verhängnisvolle Ohrfeige zeigte.

    Sanel M. hat gestanden, was die Bilder der Überwachungskameras ohnehin zeigen: Er hat Tugce Albayrak in den frühen Morgenstunden des 15. November nach heftigen gegenseitigen Beleidigungen auf dem Parkplatz einer Offenbacher McDonald’s-Filiale eine Ohrfeige verpasst. Durch den Schlag verlor die Studentin das Bewusstsein, stürzte ohne Abwehrreaktion auf den Asphalt und zog sich dabei schwere Kopfverletzungen zu, an denen sie später verstarb.

    Oberstaatsanwalt: "Sanel M. ist nicht der blindwütige Koma-Schläger"

    Das Schicksal der Tugce Albayrak bewegte Millionen. Denn der tödlichen Ohrfeige ging ein Streit voraus, in dem die Studentin zwei minderjährige Mädchen auf der Damentoilette des Schnellrestaurants vor Sanel M. und zwei Freunden beschützt haben soll. Angesichts ihrer Zivilcourage wurde die 22-jährige Tugce Albayrak zur Heldin erklärt, in sozialen Netzwerken wie in den Medien. Sanel M., der dreifach vorbestrafte, arbeitslose Sohn serbischer Eltern, wurde dagegen zur skrupellosen Bestie, zum rücksichtslosen Killer gemacht. Der Gegensatz passte perfekt. Das Urteil, so schien es, stand schon vor Prozessbeginn fest.

    Oberstaatsanwalt Alexander Homm, ein Mann mit schwarzem Aristokratenhaar und stets etwas skeptischer Miene, hat Sanel M. wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt. Und er hat an acht Verhandlungstagen vor dem Landgericht Darmstadt mehr als 60 Zeugen gehört und befragt, dazu noch verschiedene Gutachter. Widersprüche gab es zuhauf. Homm sagt in seinem Plädoyer: „Der Angeklagte ist nicht der blindwütige Koma-Schläger, zu dem er von vielen gemacht wurde.“

    Sanel M. hatte scheinbar kein Interesse an einer Eskalation

    Die Videoaufnahmen aus der Tatnacht zeigten, dass Sanel M. bereits im Begriff war, mit dem Auto wegzufahren. An einer Eskalation des Streits habe er noch wenige Augenblicke vor der Tat kein Interesse gezeigt.

    Sowohl Sanel M. als auch Tugce Albayrak seien von vielen Tatzeugen zu Projektionsflächen gemacht worden, findet der Oberstaatsanwalt. Ihnen seien pauschal Beleidigungen und Aggressivität zugeschrieben worden, an die man sich angesichts des unübersichtlichen Streits wohl kaum erinnern könne. In manchen Passagen klingt es, als bewege Homm sich auf die Forderung eines Freispruchs zu: „Eigentlich war es ein völlig banaler Abend, mit plumpen Anmachen von Sanel M. und seinen Freunden, nichts Dramatisches.“ Mit rotem Kopf und einer Miene voll unverborgenem Entsetzen folgt Macit Karaahmetoglu, der Nebenklageanwalt der Familie Albayrak, den Schilderungen des Oberstaatsanwalts.

    "Der Angeklagte hat sich als starker Mann aufgespielt"

    Offenbar geht es Homm aber nur darum, das Vorgeschehen im Inneren des Restaurants zu relativieren – Szenen, die im Prozess zigfach durchgekaut wurden und die für Homm nicht zwangsläufig zur Eskalation führen mussten. Auch, dass Tugce Sanel M. unmittelbar vor dem Schlag einen „Hurensohn“ genannt hat, habe wohl kaum den Ausschlag gegeben. „Das Wort ist an diesem Abend einfach zu inflationär gefallen“, sagt Homm. „Der Angeklagte hat sich als starker Mann aufgespielt, dem die Argumente ausgegangen sind.“ Die Reue nehme er Sanel M. ab, dennoch sei dessen Schlag ein Verbrechen, für das Homm eine Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten Haft fordert. Denn der noch zu Hause lebende Sanel M. habe „schädliche Neigungen“, die einer längeren Nacherziehung bedürften.

    „Ich möchte nicht in der Haut des Angeklagten stecken, wenn er aus der JVA entlassen wird“, sagt Homm noch mit Blick auf Drohungen, die Sanel M. in der Untersuchungshaft erhalten hat. Es gelte, sich Gedanken zu machen, wie der Angeklagte nach seiner Freilassung zu schützen sei.

    Drei Jahre und drei Monate seien nicht genug

    Nebenklageanwalt Karaahmetoglu verliert über die Opferrolle des Angeklagten danach kein Wort. Der Deutschtürke stemmt seine Arme beim Plädoyer fest auf den Tisch vor sich. Er spricht mit ungebremster Wucht. Sein Ärger, seine Aufgeregtheit lassen eine ganze Stunde nicht nach. Es ist das offensichtliche Entsetzen darüber, dass hier gerade das wahre Wesen des Sanel M. verkannt werden könnte. Karaahmetoglu spricht Sanel M. aufrichtige Reue ab, wirft ihm bei seinem Geständnis und seiner Entschuldigung vielmehr Prozesstaktik vor: „Der Angeklagte hat im Prozess die Chance verpasst, sich mit seiner Tat auseinanderzusetzen.“

    Haarklein seziert der Anwalt noch einmal die Tatnacht und zeichnet das Bild von einem gewaltbereiten jungen Mann, der am Ende „vor Aggressivität übergeschäumt“ sei. Der tödliche Schlag „mit voller Wucht“ sei nicht im Affekt gefallen, sondern geplant gewesen, behauptet Karaahmetoglu: „Der Angeklagte und sein Freund wollten Tugce und ihre Freundin bestrafen.“ Ein Abklatschen zwischen den beiden jungen Männern kurz vor der Tat will er als Beweis ausgemacht haben. Drei Jahre und drei Monate Freiheitsstrafe seien nicht genug, um ausreichend erzieherisch auf Sanel M. einzuwirken, sagt Karaahmetoglu am Ende seines Plädoyers.

    Eine Ohrfeige könne zur Ohnmacht oder Tod führen

    Statt ebenfalls in die Tiefen der McDonald’s-Filiale abzutauchen und Schimpfwortsalven zu deuten, entscheidet sich Sanel M.s Verteidiger Heinz-Jürgen Borowsky in seinem Schlusswort für einen Exkurs über den Stellenwert der Ohrfeige. „Wenn die Bundesrepublik Deutschland nicht bis ins Jahr 2000 rechtsblind gewesen ist, gehört es nicht zum gesicherten Allgemeinwissen, dass eine Ohrfeige zur Ohnmacht und wie in diesem Fall sogar zum Tod führen kann“, doziert der groß gewachsene Anwalt mit leiser, etwas heiserer Stimme. Die Ohrfeige sei jahrzehntelang in Deutschland ein sogar rechtlich zulässiges Erziehungsmittel gewesen. Die tödlichen Folgen der Ohrfeige seien für Sanel M. nicht abzusehen gewesen.

    Borowsky zitiert aus UN-Resolutionen, aus Fachmagazinen, führt einige BGH-Urteile auf, nach denen Menschen freigesprochen wurden, die wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt waren. Der Verteidiger berichtet von einer Mutter, die einen Pudding versehentlich mit Salz statt mit Zucker angerührt und ihrem Kind zu essen gegeben habe, obwohl sie den Fehler bemerkt hatte. Weil die Frau über die verheerende Wirkung einer Überdosis Salz im Körper nichts wusste, sei sie am Ende nicht verurteilt worden. Es wirkt wie eine Vorlesung, die der schlachterprobte und ergraute Borowsky den drei Richtern hält – allesamt jünger als er.

    Der Schlag war der schlimmste Fehler seines Lebens

    Sanel M. sei insofern nicht wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu verurteilen, fordert er. Sein Verteidiger-Kollege Christian Heinemann, der als Letztes das Wort zugunsten von Sanel M. ergreift, hält letztlich eine zur Bewährung auszusetzende Jugendstrafe von einem Jahr für angemessen. Der Haftbefehl gegen seinen in Untersuchungshaft sitzenden Mandanten sei aufzuheben.

    Sanel M. verfolgt die Ausführungen seiner Anwälte wieder einmal fast regungslos. Bis zu seinen letzten Worten vom schlimmsten Fehler seines Lebens. Welche Konsequenzen dieser tödliche Fehler für den 18-Jährigen haben wird, entscheiden die Richter am kommenden Dienstag.

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