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Türkei: Nach dem Erdbeben: Das dreifache Wunder von Ercis

Türkei

Nach dem Erdbeben: Das dreifache Wunder von Ercis

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    Zwei Frauen trauern in Ercis um getötete Verwandte.
    Zwei Frauen trauern in Ercis um getötete Verwandte. Foto: Tolga Bozoglu dpa

    Es ist ein dreifaches Wunder: Zwei Tage nach dem schweren Erdbeben im Osten der Türkei haben Rettungskräfte ein rund zwei Wochen altes Baby, seine Mutter und seine Großmutter lebend aus den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes in der Stadt Ercis geborgen. Ihre Rettung sowie die Bergung weiterer Verschütteter ließ die Hoffnung bei Rettern und Angehörigen von Vermissten wieder steigen - auch wenn die zunehmende Kälte die Überlebenschancen schwinden lässt.

    Die Familie Karaduman war am Sonntag von dem Beben der Stärke 7,2 in ihrer Wohnung überrascht worden. Stundenlang versuchten die Bergungsmannschaften am Dienstag zunächst vergeblich, an sie heranzukommen. Dann endlich gelingt es dem kleinsten Mitglied im Team, sich durch die Trümmer zu zwängen. Er holt die kleine Azra vom Schoß der Mutter und bringt sie - nackt wie am Tag ihrer Geburt - unter dem Jubel der Beistehenden in die Freiheit.

    "Als ich die Kleine in meinen Armen hielt, war ich der glücklichste Mensch der Welt", erzählt Azras 35-jähriger Retter Kadir Direk. "Als ich nach ihr griff, bat mich die Mutter, ihr einen zweiten Namen zu geben." Direk entscheidet sich für Aysenur, einer Kombination aus dem Namen der Frau des Propheten Mohammed und dem Wort "Licht".

    Wenige Stunden nach der Rettung der Kleinen folgen Azras 24-jährige Mutter Seniha und Großmutter Gulzade. Die über 70-Jährige hatte sich einen Fuß unter dem Beton eingeklemmt, die junge Mutter dagegen litt nur an Dehydrierung. Ob ihr Mann das Beben ebenfalls überlebte, blieb zunächst unklar. Rettungskräfte sagten der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu, auch er sei unter den Trümmern begraben, von ihm fehle jedoch jedes Lebenszeichen.

    Bereits in der Nacht war es den Teams gelungen, eine Schwangere und ihre zwei Kinder lebend aus den Trümmern zu holen, später am Nachmittag folgt die Rettung eines etwa 30-jährigen Manns.

    Das Wunder war nötig, um nicht den Mut zu verlieren

    Retter und Angehörige haben diese kleinen Wunder bitter nötig, um den Mut nicht zu verlieren. Denn die Aussichten werden immer düsterer: Auf den Straßen türmen sich die Leichenberge, stündlich wächst die Opferzahl - am Dienstagnachmittag spricht der Krisenstab von über 430 Toten und mehr als 1300 Verletzten. Eine Sprecherin der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften schätzt derweil, dass noch hunderte, wenn nicht gar tausende Menschen unter den Trümmern von Ercis und der Provinzhauptstadt Van liegen. Regen erschwert die Bergungsarbeiten, in der Nacht liegen die Temperaturen bereits um den Gefrierpunkt. Und noch in dieser Woche soll es schneien.

    Auch den Überlebenden setzt die Kälte zunehmend zu. Diejenigen, die überhaupt noch ein Dach über dem Kopf haben, bleiben aus Angst vor Nachbeben auf der Straße. Sie streiten sich mit den obdachlos gewordenen Familien um die Zelte, die die Regierung zur Verfügung gestellt hat. Diese tut, was sie kann: Der Fußballplatz von Ercis verschwindet in einem Meer von Zelten, im Stadion hat das Rote Kreuz eine Behelfsklinik eingerichtet. Überhaupt ist die Hilfsbereitschaft im ganzen Land überwältigend.

    Adem Köstekçi hat für diese Hilfe keinen Blick. Sein Onkel, der beim Dominospiel im Erdgeschoss eines sechsstöckigen Wohnhauses verschüttet wurde, lebt noch, davon ist er überzeugt. Rettungsmannschaften haben aus der Tiefe des eingestürzten Gebäudes eine Stimme gehört - demnach gibt es dort gleich mehrere Überlebende. Für kurze Zeit herrscht Stille, dann werfen die Retter ihr Räumgerät wieder an. Für Adem ist klar: Sein Onkel wird bald wieder in Freiheit sein - ebenso wie die kleine Azra und ihre Familie. afp

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