Sie gehen immer auf die gleiche Weise vor: Die Meeresräuber nähern sich den Segelbooten von hinten, wo am Heck unter der Wasserlinie das Ruderblatt befestigt ist. Erst schwimmen sie ganz dicht heran und beobachten, wie sich das Ruder bewegt. Dann rammen die tonnenschweren Schwertwale das Steuerruder, verbeißen sich in das Ruderblatt, reißen oftmals sogar mit ihren Zähnen Stücke heraus.
Freizeitsegler nach Orca-Attacke: "Wir waren manövrierunfähig"
Mehr als 150 solcher mysteriöser Ruderattacken registrierte die internationale Forschergruppe „Orca iberica“ mittlerweile vor der süd- und westspanischen Atlantikküste, wo der Spuk vor einem Jahr begann. Die meisten dieser Angriffe ereigneten sich zwischen der andalusischen Hafenstadt Cádiz und der Meerenge von Gibraltar, die den Atlantik mit dem Mittelmeer verbindet. Eine fischreiche Zone, in der die Schwertwale, die wegen ihrer brutalen Jagdmethoden den Beinamen Killerwale haben, besonders gerne Thunfischen nachstellen.
Für die betroffenen Freizeitsegler enden diese Begegnungen mit den Schwertwalen oft mit einem Notruf: „Meine Steueranlage war zerstört, und wir waren manövrierunfähig“, berichtet Diego Flores, der mit seinem Segelboot in der Nähe von Cádiz unterwegs war. Vier Orcas, wie die Meeressäugetiere nach ihrem lateinischen Namen „Orcinus orca“ auch genannt werden, hätten das Boot beschädigt.
Allein diesen Sommer gab es 69 Kollisionen von Segelschiffen mit Orcas
„Wir hatten Angst“, erzählte Flores im spanischen Radio. „Meine Frau hat geweint und gezittert.“ Erst nach einer halben Stunde hätten die Tiere mit der langen schwertähnlichen Rückenflosse von dem Schiff abgelassen. Seine Ehefrau sei seitdem traumatisiert. „Sie will kein Schiff mehr betreten.“ Deswegen denkt Flores, der seit 17 Jahren auf dem Atlantik segelt, nun sogar daran, sein Schiff zu verkaufen. Immer öfter muss der spanische Seenotrettungsdienst ausrücken und von Schwertwalen demolierte Segelschiffe abschleppen. Allein in diesem Sommer wurden an der südspanischen Atlantikküste 69 Kollisionen mit Orcas registriert. Menschen kamen glücklicherweise dabei nicht zu Schaden. Doch die Bootswerften haben alle Hände voll zu tun, weil immer wieder Freizeitboote mit beschädigten Ruderanlagen in den Häfen eintreffen.
Wegen der Häufung dieser Begegnungen, die von Walforschern als „Interaktionen“ bezeichnet werden, hat Spaniens Seenotdienst inzwischen sogar Verhaltensempfehlungen ausgegeben: „Im Falle eines Zusammentreffens mit Orcas wird geraten, den Motor abzustellen, die Segel einzuholen und das Steuerrad nicht festzuhalten. Die Besatzungsmitglieder sollten sich nicht an der Bootsreling aufhalten.“
Zudem sollten die Kapitäne, wenn möglich, einen großen Bogen um die Meerestiere machen. Diesem Ratschlag folgen nicht alle: Täglich starten von Cádiz Ausflugsschiffe zu Walbeobachtungstouren. Einen dieser schwarz-weißen Orcas, die acht Meter lang werden können, vor die Kameralinse zu bekommen, gilt als absoluter Höhepunkt. Wenn von Seglern oder Touristenschiffen eine Gruppe von Tieren gesichtet wird, werden manchmal alle Vorsichtsregeln über Bord geworfen.
Forscher analysieren die Vorfälle: Trainieren Orcas die Thunfischjagd?
Wehren sich diese geschützten Meeresbewohner, die bis vor kurzem nicht dafür bekannt waren, auf Segelboote loszugehen, nun gegen die Bedrängung durch die Menschen? Hat ihre Verhaltensänderung mit dem Klimawandel oder der Verschmutzung der Meere zu tun? Oder „spielen“ die als sehr neugierig geltenden Tiere vielleicht nur mit den Segelschiffen? Seit Monaten analysieren Wissenschaftler der Forschergruppe „Orca iberica“ die Vorfälle, um das Rätsel zu lösen. Nach der Auswertung aller Daten haben die Forscher Parallelen gefunden: Es sind ausschließlich Segelboote betroffen. Stets sind es Jungtiere, die das Ruderblatt demolieren, während die älteren Orcas das Boot flankieren. Das erinnert an die Strategie bei der Thunfischjagd: Dabei nehmen mehrere Schwertwale die ebenfalls ziemlich großen Thunfische in die Zange, während andere versuchen, das Opfer durch Rammstöße und Bisse in die Schwanzflosse zu schwächen.
„Es spricht immer mehr dafür, dass die Elterntiere mit ihren Jungen die Thunfischjagd trainieren“, sagt der Biologe José Carlos García-Gómez. „Dabei werden möglicherweise die Segelboote als geeignetes Übungsmaterial betrachtet.“ Das sich im Wasser bewegende Ruderblatt der Segelschiffe diene eventuell als geeignetes „Lernwerkzeug“, das die Schwertwale an die Schwanzflosse der Thunfische erinnere. Walforscher betonen, dass Orcas trotz ihres Beinamens „Killerwal“ als sehr friedliche Tiere gelten. Es seien bisher keine Angriffe frei lebender Orcas auf Menschen dokumentiert. Nur bei Tieren in Gefangenschaft, die in Vergnügungsparks in den USA oder in Spanien gehalten werden, sei es bisher zu tödlichen Unfällen gekommen. Zuletzt wurde 2010 im US-Park Seaworld ein Tiertrainer von einem Orca getötet.