Eine Leiche, das Gesicht entstellt, ohne Kleidung abgelegt. Kommt sie aus dem Allgäu? Kurzzeitig sieht es so aus, als wäre die Tote in diesem selbstzerstörerischen – die derbe Kommissarin Rubin würde vielleicht sagen abgefuckten – Berliner „Tatort“ mit einer Reisegruppe unterwegs gewesen. Ist aber eine falsche Spur.
Dem Ermittlerteam Karow (Mark Waschke) und Rubin (Meret Becker) schaut man in der absolut sehenswerten Folge „Die Kalten und die Toten“ (Sonntag, ARD, 20.15 Uhr) weniger beim Ermitteln zu – eher dabei, wie sie Scherben hinterlassen. Wie sie mit ihren Polizeimethoden nicht weiterkommen, auf Psychospielchen ausweichen, einen Menschen aus Rache kriminell werden lassen, einen anderen in den Tod treiben.
Wäre ganz Berlin so todtraurig und dystopisch wie in diesem „Tatort“ (Regie: Torsten C. Fischer, Drehbuch: Marcus Busch), wären alle dort so verkorkst, es wäre die grauenvollste Stadt der Welt. Dass auch in der Realität hinter manchem Fenster in den anonymen Wohnblöcken und den ereignislosen Vororten Menschen mit ähnlich gescheiterten Leben wohnen, ganz bestimmt. Dieses Wissen macht alles ja so beklemmend.
Berliner "Tatort": Wenn Eltern verzweifeln
Da ist der junge Dennis Ziegler (Vito Sack), Haare wie ein Engel, empathiefrei wie ein Hologramm, mit einer Polizistinnen-Mutter (Jule Böwe), die selbst einen Mord für ihn vertuschen würde. Er und seine Freundin hatten früher in der Todesnnacht noch Sex mit dem Opfer. Die Tote ist, wie sich schnell herausstellt, eine Medizinstudentin mit nächtliche Doppelleben. Ihre anständigen Eltern (Andreja Schneider, Reiner Reiners) betreiben eine Gärtnerei – und die Geheimnisse der Tochter heben ihre heile, holzvertäfelte Welt so aus den Angeln, dass sie sich weigern zu glauben, die Tote könnte ihre Sophia sein. Dieser Erzählstrang macht einem das Schlucken schwer, so viel Verzweiflung enthält er. Am liebsten würde man fliehen und in den Müggelsee abtauchen wie die Mitglieder des dortigen Tauchclubs, der in dieser tollen Folge noch eine Rolle spielen wird.
„Die Kalten und die Toten“ ist der vorletzte gemeinsame „Tatort“ des Teams Becker/Waschke – und auch das ist traurig. Karow ist diesmal so zynisch und sarkastisch wie nie zuvor, Rubin hängt ständig in schummrigen, schlecht besuchten Bars herum und ist immer kurz vor dem Ausrasten. Und auch wenn sich beide zwischendurch beim Karaoke mit dem neuen Kollegen Malik Aslan (Tan Caglar) in den Armen liegen, es hilft nichts: „Ich will endlich mal wieder was Schönes, was Warmes, was Lustiges, was Lebensfrohes“, sagt Rubin in einer der letzten Szenen. Bei aller Fantasie: als Ermittlerin im Berliner „Tatort“ wird sie das nicht mehr finden..