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Stuttgart 21: So sieht es in der faszinierenden Baustellen-Welt von Stuttgart 21 aus

Stuttgart 21

So sieht es in der faszinierenden Baustellen-Welt von Stuttgart 21 aus

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    Das milliardenschwere Herz des Bahnprojekts Stuttgart 21. Die weißen kreisförmigen Gebilde sind die Kelchstützen, die später einmal das Dach des neuen Tiefbahnhofs tragen sollen.
    Das milliardenschwere Herz des Bahnprojekts Stuttgart 21. Die weißen kreisförmigen Gebilde sind die Kelchstützen, die später einmal das Dach des neuen Tiefbahnhofs tragen sollen. Foto: Bernd Weisbrod, dpa

    Auf der oberen Arbeitsebene der Bahnhofsgrube sieht es aus wie auf einem gigantischen Schrottplatz. Meterlange Bündel verbogener Stahlstreben, soweit das Auge reicht. An jeder Strebe ist ein wetterfestes Etikett befestigt mit einer Reihe von QR- und Zahlencodes, Plan-, Bauteil- und Positionsnummern. „Brillenkelch“ steht winzig unter einer Zahlenreihe.

    22.000 solcher mittels 3-D-Technik gefertigten Stahlstreben braucht es in 11.000 verschiedenen Biegungen und Längen, um eine einzige der 28 Kelchstützen zu bauen, die später einmal das Dach des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs tragen sollen. Bis zu 350 Tonnen Stahl und 685 Kubikmeter Beton werden verbaut – pro Kelchstütze.

    16 davon sind bereits fertig betoniert, Ende 2022 sollen alle stehen. Kühl und glatt, mit dem merkwürdigen hellen Schimmer des eigens für Stuttgart 21 entwickelten Betons, ragen die Kelche empor, aus deren am Boden meterdicken Säulen ein Betondach mit dem Durchmesser von jeweils 32 Metern erwächst. Sie lassen die Gestalt und die Dimension des neuen Bahnhofsgebäudes erahnen. Ein 17. Kelch wächst gerade empor, noch drei weitere sind im Bau.

    Stuttgart 21 kommt voran. Das ist die Kernbotschaft der Baustellen-Begehung an diesem Tag – was nicht selbstverständlich ist in Deutschland bei einem Projekt dieser Dimension. Und es ist ja nicht so, dass es in Stuttgart keine Probleme gegeben hat in all den Jahren. Im Gegenteil, man denke an die zeitlichen Verschiebungen, an die massiven Kostensteigerungen. Derzeit liegt der Rahmen bei 8,2 Milliarden Euro, 2009 waren im Finanzierungsvertrag noch 4,5 Milliarden Euro festgelegt worden.

    Plötzlich purzelten vom Bahnhofsgebäude schwere Steine nach unten

    Als sich vergangene Woche mitten in der Nacht am denkmalgeschützten Gebäude des Hauptbahnhofs schwere Steine lösten und aus einer Höhe von 15 Metern zu Boden stürzten, kam sofort die Frage auf, ob der Zwischenfall den Zeitplan von Stuttgart 21 durcheinanderbringe. Zeitweise waren der Taxi-Wartebereich vor dem Bahnhof sowie der Zugang zum gesamten Gebäude gesperrt. Bahnreisende mussten einen weiten Umweg zu den Gleisen in Kauf nehmen.

    Nein, versuchte ein Bahn-Sprecher gleich zu beruhigen, Verzögerungen bei Stuttgart 21 seien nicht zu erwarten. Inzwischen wurde auch die Ursache gefunden. Bei Sanierungsarbeiten in dem entkernten Gebäude sei versehentlich eine tragende Wand abgerissen worden, heißt es. Daraufhin habe ein Dachträger nachgegeben und die Fassade beschädigt.

    Mitarbeiter der Deutschen Bahn gehen in dem rund zwei Kilometer langen Tunnel unter der Autobahn A8 nahe des Stuttgarter Flughafens. Der Tunnel gehört zum Bahn-Bauprojekt Stuttgart 21.
    Mitarbeiter der Deutschen Bahn gehen in dem rund zwei Kilometer langen Tunnel unter der Autobahn A8 nahe des Stuttgarter Flughafens. Der Tunnel gehört zum Bahn-Bauprojekt Stuttgart 21. Foto: Christoph Schmidt, dpa

    Alles im Plan also bei Stuttgart 21. Auf der Ebene der oberen Stahlgitterkonstruktion wimmelt es nur so von Bauarbeitern. Unten fahren Bagger durch den Staub der Grube, oben drehen sich die Kräne und senken ihre Last in die Tiefe. Es kracht, klopft, kreischt, hämmert, die Sprachfetzen und Kommandos sind international. Großbaustellenatmosphäre, harte Arbeit.

    Das Hantieren mit den Bewehrungsstählen, 40-Millimeter-Eisen, bis zu zwölf Meter lang, bis zu 120 Kilogramm schwer, ist nichts für Grobmotoriker, sondern Millimeterarbeit. Ein Vermessungsingenieur überprüft per 3-D-Messung händisch die finale Position der einzelnen Stahlstreben, um deren abfallende Dachblume der Beton gegossen wird, und gleicht sie digital mit den Konstruktionsplänen ab. Bevor hier nicht alles auf den Millimeter sitzt, wird nichts verschalt, nichts betoniert.

    Michael Pradel war von Anfang an Herr des Geschehens bei Stuttgart 21

    Willkommen im Ingenieursparadies des 21. Jahrhunderts, in der Baugrube des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs, Herz des Milliardenprojekts Stuttgart 21.

    Wer einen Crash-Kurs absolvieren möchte über Stahlbetonbau und Statikherausforderungen, für deren Lösung man vor 30 Jahren noch keine technischen Mittel hatte, muss mit Michael Pradel über die Baustelle gehen. Wenn Stuttgart 21 das Paradies auf Erden für Bauingenieure ist, ist Pradel so etwas wie der Türwächter und der liebe Gott in einer Person.

    Michael Pradel ist der technische Direktor des Gesamtprojekts.
    Michael Pradel ist der technische Direktor des Gesamtprojekts. Foto: Ulrike Bäuerlein

    Der 47-jährige Bauingenieur war quasi von Anfang an, seit 2015, Chef der Bahnhofsbaustelle und scheint nicht nur jeden der derzeit rund 500 Bauarbeiter und jede der Handvoll koreanischen Bauarbeiterinnen zu kennen – sie sind tatsächlich, da geht es noch ganz klassisch rollengerecht zu, für die Aufhübschung des fertigen Betons zuständig –, sondern Pradel kennt offenbar auch jede Stahlstrebe und deren Platz.

    Seit Mai 2021 ist er technischer Geschäftsführer des gesamten „Bahnprojekts Stuttgart-Ulm“, wie Stuttgart 21 offiziell im Bahnjargon heißt. Bei der „Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart“ geht es ja nicht nur um den Hauptbahnhof der Landeshauptstadt, sondern im Gesamtprojekt auch um den Flughafen und auf der Schwäbischen Alb nach Ulm um vier neue Bahnhöfe insgesamt, um 57 Kilometer neue Schienenwege, um 59 Kilometer Tunnelröhren, um 16 neue Tunnel und Durchlässe und um 44 Brücken.

    Künftig braucht man von Ulm nur noch 30 Minuten zum Flughafen

    Die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm ist auf der Zielgeraden, derzeit sind 100 von 120 neuen Gleiskilometern schon verlegt. Ende nächsten Jahres, am 11. Dezember, soll sie in Betrieb gehen. Die Fahrgäste sollen dann mit Tempo 250 auf der Staustrecke der Autobahn A8 vorbeirauschen. Wer beispielsweise per ICE von Ulm zum Flughafen Stuttgart will, soll künftig nur noch 30 Minuten statt bisher eine Stunde, 35 Minuten benötigen.

    Das Herzstück der Neubaustrecke ist die Filstalbrücke, noch so ein monumentales Bauwerk der Ingenieure, das das Gesicht der Landschaft dramatisch verändert. Sie überspannt in 85 Metern Höhe als höchste Eisenbahnbrücke Baden-Württembergs das

    Die neue Filstalbrücke auf der Trasse Ulm-Wendlingen ist die höchste Eisenbahnbrücke Baden-Württembergs.
    Die neue Filstalbrücke auf der Trasse Ulm-Wendlingen ist die höchste Eisenbahnbrücke Baden-Württembergs. Foto: Bernd Weisbrod, dpa

    Aber die Stuttgarter Baugrube ist schon das I-Tüpfelchen des gesamten Projekts. Nicht nur für die erbitterten Gegner. Einen Fernverkehrsbahnhof unter Vollbetrieb im dicht bebauten Herzen einer Großstadt in Kessellage, umzingelt von mehrspurigen Bundesstraßen und untertunnelt von zahllosen S- und Stadt-Bahntunneln und der gesamten Stuttgarter Kanalisation, nicht nur zu versenken, sondern samt aller Gleiszufahrten um 90 Grad zu drehen, auf die Idee muss man erst einmal kommen. Sie umzusetzen, grenzt an technischen Größenwahn.

    Pradel ist das Gesicht dieses gigantischen Unterfangens. Die Bahn tut gut daran, ihn an vorderste Front zu stellen. Er kann reden, gut erklären, hat eine unendliche Fülle von Daten und Zahlen parat und ist restlos begeistert von den Herausforderungen und unerschöpflichen Möglichkeiten des Milliardenprojekts. Was das alles kostet, spielt für die S21-Ingenieure keine Rolle. Nur die Frage, ob und wie was geht.

    Politische Debatten gehören nicht zur Baustellenwelt von Stuttgart 21

    Politische Diskussionen und „was-wäre-wenn“-Debatten gehören nicht zur Baustellenwelt. Pradel sieht Aufgaben und sucht Lösungen. Ganz gleich, ob es um die Umsiedlung von Eidechsen geht oder darum, ein 15.000 Tonnen schweres denkmalgeschütztes Gebäude wie die alte Stuttgarter Bahndirektion auf 36 hydraulisch gesteuerte Stelzen zu stellen, um direkt darunter die neuen Tunnelröhren für die Züge zu bauen. Mittlerweile hat die Bahndirektion wieder festen Boden unter dem Keller – unbeschadet. Von den 51 Kilometern neuer Tunnelröhren im Stuttgarter Talkessel sind 50 Kilometer fertig.

    Wer in diesen Tagen durch die Bahnhofs-Baugrube geht, kann am Rand der künftigen Bahnsteige entlang in die vier Tunnelröhren hineingehen, durch die die Züge später ein- und wieder ausfahren sollen. Man kann jetzt schon hinabklettern in die fertigen Verbindungsgänge zwischen S-Bahn und künftigen Bahnsteigen, einen Blick durch eine Tür nach nebenan werfen, direkt auf die unterirdische Stadtbahnstation des Hauptbahnhofs, die gerade einen neuen Boden bekommt und saniert wird. Man kann den Kopf in den Nacken legen unten zwischen den fertigen Kelchstützen und durch die Aussparung für eines der riesigen Lichtaugen in der Decke durch die Schutzfolie in den blauen Himmel schauen.

    22.000 Stahlstreben braucht es, um eine einzige der 28 Kelchstützen zu bauen.
    22.000 Stahlstreben braucht es, um eine einzige der 28 Kelchstützen zu bauen. Foto: Ulrike Bäuerlein

    Und wer ganz oben vom Turm des alten Bahnhofsgebäudes hinunter auf die Baustellengrube schaut, auf das zum Teil fertige Dach, die Kelchstützen, die Kontur des neuen gedrehten Bahnhofs, die neue Halle, in die Tunnelröhren ab beiden Enden, für den ist die Vorstellung, dieses Projekt noch stoppen oder auch irgendwie umwidmen zu können, geradezu absurd. Aber die Vorstellung lebt bei den Gegnern weiter.

    Pradel steht mit den „Ingenieuren 22“ im Stuttgart-21-Widerstand, einer Gruppe, die jeden Fortschritt des Projekts noch immer mit einer alternativen Planung begleitet, im Austausch. Man kennt sich und spricht die gleiche Sprache – zumindest als Ingenieure. Pradel kennt den Stand der alternativen Planung. Ein unterirdisches Logistik-Güterverteilzentrum soll in dem bereits fertig gebauten Röhren entstehen, ein riesiges Fahrradparkhaus. Und noch immer, rechnen die Gegner, ließen sich Milliarden einsparen. Von den Sicherheitsbedenken – Mineral- und Grundwassergefährdung, Brandschutz, Neigung der Gleise im Bahnhof und den Zweifeln an der Kapazität – gar nicht zu sprechen. Was Pradel davon hält? „Die Neubaustrecke vom Flughafen nach Ulm geht im Dezember ‘22 in Betrieb, der Bahnhof im Dezember ‘25“, sagt er.

    Als das Unwetter nach Stuttgart kam, blieb es in der Baugrube trocken

    Dass in seiner Baugrube nichts an Sicherheitsfragen unbedacht blieb, davon ist er überzeugt. Während die Gegner stets postulierten, bei Starkregen würde sich die Baugrube in ein riesiges Wasserbecken verwandeln, gab es Ende Juni den Beweis des Gegenteils. Während die Stadt rundum im Chaos versank, Unwetter und Starkregen nebenan Bundestraßen-Unterführungen überfluteten, der Sturm meterdicke alte Baumriesen im Schlossgarten fällte und einen Teil des Operndachs abdeckte, gab es auf der Baustelle keine größeren Schäden zu beklagen.

    „Es stand kein Wasser auf dem Boden“, sagt Pradel und schaut stolz auf eines der betonierten Schmutzwasser-Abflussbecken in der Baugrube, in dem eine Pumpe unten im Wasser arbeitet. „Eine Bibo“, sagt er. Dass nicht die gesammelten Wassermengen aus der Baustelle die Stuttgarter Kanalisation überlasteten und zu den Überschwemmungen nebenan führten, räumten dann unwillig auch die Gegner ein. Denn im Stuttgarter Rathaus musste man bei der Ursachensuche zugeben, dass die Gullys verstopft und zu lange nicht gesäubert worden waren.

    Und das in der Stadt, in der neben dem Widerstand die Kehrwoche gleich die zweite Bürgerpflicht ist.

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